Theater über Ost-Identität: Das sogenannte Glück

In dem Theaterstück »Verglühende Landschaften« erforscht Anja Gessenhardt ihre Ostbiografie

Kurz schlüpft Anja Gessenhardt in die Rolle einer FDJ-Gruppenleiterin und ruft das Publikum zum Fahnenappell.
Kurz schlüpft Anja Gessenhardt in die Rolle einer FDJ-Gruppenleiterin und ruft das Publikum zum Fahnenappell.

Die Musik wummert, Anja klammert sich an die Stange, fällt zwei, drei Meter herunter und bremst nur kurz vor dem Boden des Zirkuszeltes ab. Immer wieder klettert sie nach oben. »Was heißt das denn jetzt?«, ruft sie, dann stürzt sie wieder ab. Den Halt, den sie verliert, es ist der Halt einer einengenden, aber stabilen Welt. Der Halt der DDR.

In dem Theaterstück »Verglühende Landschaften – Feeling A: eine Herstory der Wende« erzählt die Darstellerin Anja Gessenhardt ihre eigene Geschichte: Eine weibliche, queere, linke Ostbiografie. Am Mittwochabend wird es im Zirkuszelt auf der Brache hinter der neuen Zukunft aufgeführt, als Teil des Kulturfestivals »Spektakel auf der Autobahn«, das mit Kulturprogramm gegen den Bau der A100 protestiert. Hin und wieder rauscht die Ringbahn akustisch durch das Zelt, denn die Brache liegt direkt neben der S-Bahnlinie zwischen Ostkreuz und Treptower Park.

Trotzdem lädt das Stück zum Eintauchen ein. Mit wenigen Elementen lässt die Regisseurin Anika Lachnitt die Welt ihrer Protagonistin vor und nach der Wende auferstehen. So braucht es für das typische DDR-Klassenzimmer nicht viel: ein Schulstuhl mit hölzernem Sitz und Lehne, die charakteristische Bogenhanf-Zimmerpflanze und ein Bild von Erich Honecker, schon lebt die Vergangenheit auf.

Doch dem Theaterstück geht es nicht um eine verklärende Zeitreise. Die Verbindung von Dokumentartheater und Artistik – Anja wird sich im Laufe des Abends mehrmals mit beeindruckender Kraft an der Chinese Pole (Vertikalstange) emporschwingen – erlaubt es der Theatergruppe »Bandentheater«, die Biographie der mittlerweile Ende 40-jährigen Protagonistin in ihrer Komplexität darzustellen. Die Aufregung des Umbruchs, die Angst vor Verlust, die Wut auf kapitalistische Irrlichter und die Bedrohung durch Nazis, das alles wird durch Gessenhardts Performance spürbar.

Mit der Schulzeit lässt das Stück eine prägende DDR-Erinnerung wieder auferstehen. 1974 in Erfurt geboren, geht Anja auf die Polytechnische Oberschule Wilhelm Pieck. Es wird pädagogisch, als Anja den Fahnenappell mit den Zuschauer*innen nachstellt. Als Jungpionier*innen soll das Publikum ihr mit hohen, motivierten Stimmen »Immer bereit« entgegenrufen oder als FDJ »Freundschaft« grummeln, während Anja mit rotem Halsband die aufgekratzte Gruppenleiterin gibt.

Den jüngeren oder westdeutschen Zuschauer*innen eröffnet das Stück damit eine Welt, die Anja mit lakonischem Unterton kommentiert. Zum Wehrunterricht sagt sie etwa: »Das bedeutet: Mit Gasmaske über den Schulhof robben, während die anderen Schüler am Fenster standen und sich kaputtgelacht haben. Peinlich.«

Schnell wird klar, dass die 15-jährige Anja rebelliert. Sie schaut sich die Montagsdemos an, doch als die Massen Helmut Kohl zujubeln, will sie ihm lieber ein Ei an den Kopf werfen. Dafür verfolgt sie begeistert vom oberen Ende der Stange aus die Rede von Christa Wolf, die über alte Röhrenfernseher auf der Bühne ausgestrahlt wird: »Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg!«

Nach dem Aufbruch kommt die Enttäuschung: »Das sogenannte Glück der Wiedervereinigung versetzt uns, die ehemaligen Bürger*innen der DDR, in einen existenziellen Schock.« Was werde ich arbeiten? Wo werde ich leben? Welcher Abschluss zählt überhaupt noch? Gerade ihre Generation ist plötzlich mit einer Unsicherheit konfrontiert, mit einer Haltlosigkeit, die Anja im Fall an der Stange körperlich zum Ausdruck bringt.

Ihre Antwort: Gegenkultur. Schon in Erfurt hängt Anja im Autonomen Jugendzentrum ab, dann zieht sie nach Berlin und taucht ein in die Szene der Punks, Hausbesetzer*innen – und der Queers. Mit einer eigenen feministischen Punkband tritt sie in den einschlägigen Hausprojekten auf und setzt sich auch auf der Bühne ans Schlagzeug, um einen alten Hit zu spielen. Der Song heißt »Queer« und die Vorführung ist einer der emotionalsten Momente im Stück: Du musst nicht wissen, welches Geschlecht du hast, singt Anja auf Englisch, »heshe« oder »sheboy«, ganz egal. Dass Mitte der 90er Jahre junge Linke ihre Ablehnung des binären Geschlechtersystems ausdrücken und Anja nun diese Rebellion wiederbelebt, das berührt und bewegt.

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Es berührt vor allem, weil die Freiheit des Nachwende-Berlins nur kurz anhält. Anja erinnert sich an Räumungen und Rechtsruck. »Im Berlin der 90er bist du besser gerannt, wenn ein Nazi um die Ecke kam.« Sie selbst wird 1996 in der Straßenbahn angegriffen. Zuerst hätten rund 25 Rechtsextreme an der Haltestelle gestanden, »als nächstes hatte ich eine Knarre am Kopf und wenig später einen Bierhumpen«. Der Täter bekommt Bewährung, sie überlebt. Und erinnert an die vielen Nazi-Opfer, die nicht überlebt haben.

Vieles bleibt unbeantwortet. Als das Stück in die Gegenwart springt, liest die Regisseurin offene Fragen vor: Was bedeutet die DDR heute für dich? Was ist deine prägendste Kindheitserinnerung? Im anschließenden Publikumsgespräch erklären die Macher*innen, dass es ihnen nicht um ein abgeschlossenes Werk ginge, sondern um den Dialog, der sich ausgehend von einer exemplarischen Biografie entspannen kann. Tatsächlich können einige Zuschauer*innen an das Gesehene anknüpfen, »der Fahnenappell war wirklich genauso, wie er immer gewesen war«, sagt etwa eine ältere Frau, »alles wurde kontrolliert, alles war eingeengt.« Auch sie hatte deshalb 1989 auf tatsächlich linke Veränderungen gehofft. »Aber das ist nicht eingetreten.«

Eine andere Zuschauerin schlägt vor, das Stück in Westdeutschland vorzuführen, denn die Erfahrungen von Ostdeutschen würden viel zu selten dargestellt. Regiesseurin Anika Lachnitt stimmt zu: Eigentlich hatte die Truppe ein intersektionales Projekt mit unterschiedlichen Wende-Geschichten geplant, doch dafür hätte sie einfach nicht genug Fördermittel gefunden. In den Publikumsgesprächen zeige sich aber, wie viel Menschen diese Repräsentation bedeute. »Jetzt können wir sagen: es gibt Bedarf, gebt uns Geld.«

Weitere Aufführungen: 19.11.23 und 20.11.23, 19 Uhr, Villa Kuriosum, Scheffelstraße 21, 10367 Berlin.

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