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  • »Die Zärtlichkeit«

Jingle-Jangle-Zärtlichkeit

Ein kurzer Weg vom Abgrund in das Herz: Das Debütalbum von Die Zärtlichkeit

  • Luca Glenzer
  • Lesedauer: 3 Min.

Erinnern Sie sich noch an die 1980er Jahre-Bands wie The Smiths, Orange Juice oder The Go-Betweens? Als Jangle Pop wurde diese Musik damals bezeichnet – in Anlehnung an Bob Dylans Rede vom »Jingle Jangle Morning« in seinem Song »Mr. Tambourine Man« aus Mitte der 1960er Jahre. Die Musik der Epigonen zeichnete sich durch treibende und einfache Rhythmik, melodische Gitarrenlicks und schwelgerische Gesangsharmonien aus. Dazu wurden Texte gesungen, die Außenseitertum und Unsicherheit nicht wie so oft mit Chauvinismus und Misogynie, sondern stattdessen mit Romantik und Zärtlichkeit beantworteten und damit den perfekten Anti-Soundtrack zum kollektivistisch-breitbeinigen Hard-Rock-Gepose jener Zeit lieferten.

Im angloamerikanischen Raum war die Szene damals ein wesentlicher Bestandteil der Indie-Kultur. Auch in Deutschland erfreuten sich jene Bands einer gewissen Beliebtheit, doch blieben hiesige Vertreter wie die Time Twisters, die sich an den Vorbildern aus Übersee orientierten, eher eine Ausnahme. Doch nun, 40 Jahre später, gibt es auf einmal die Band Die Zärtlichkeit, die ihre Agenda bereits im Namen trägt und sich anschickt, den Jangle Pop auch in der deutschsprachigen Musikkultur nachträglich zu etablieren.

»Heimweh Meisterwerke« heißt das kürzlich vom Hamburger Label Tapete Records veröffentlichte Debüt des Kölner Quartetts um Sänger Andreas Fischer und Gitarrist und Songschreiber Tobias Emmerich. Und wie bei den obigen Bands janglen auch hier die Gitarren, als hätte Emmerich sein Gitarrendiplom bei Johnny Marr von den Smiths höchstpersönlich erworben. So bestechen die neun Songs durch komplexe, hochmelodische Gitarrenpickings, die einen – einmal gehört – schon mal pfeifend durch den Tag spazieren lassen. Und auch Fischers Hang zu elegischen Gesangsmelodien erinnert an das Schmidt’sche Vorbild aus Manchester – wenngleich man einschränken muss, dass Morrisseys Stimmgewalt bei aller Emphase (natürlich) nicht erreicht wird. So überzeugen die etwas nüchterner, weniger pathetisch vorgetragenen Passagen dann auch mehr als die langgezogenen Lines, die gelegentlich etwas arg bemüht erscheinen – etwa in dem ansonsten sehr schönen »Ein kurzer Weg«: »Es war ein kurzer Weg vom Abgrund in mein Herz«.

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Ganz Jangle-like behandeln Fischers Texte die Zumutbarkeiten des Aufwachsens und der Einsamkeit. Seine Losung heißt nicht Anpassung, sondern stets Hingabe und Melancholie. So geht es mal um Stimmen, die einem die eigene Nichtigkeit einflüstern wollen (»Stimmen«), mal um Träume, die mehr Versprechungen zu bieten haben als der triste Alltag (»In meinen Träumen«) und mal um verheißungsvolle und zugleich toxische Beziehungen (»Star«). Dass all die Coming-of-Age-beeinflussten Geschichten auf »Heimweh Meisterwerke« mehr retrospektiv als gegenwärtig erzählt werden – die Bandmitglieder sind alle jenseits der 30 – ist dabei ein willkommener Verfremdungseffekt und erinnert entfernt an die Spätphase von Tocotronic und Songs wie »Die Erwachsenen« oder »Electric Guitar«.

Das Album »Heimweh Meisterwerke« überzeugt nicht gerade durch Innovationskraft und Überraschungseffekte, dafür aber durch gutes Handwerk und Songwriting. Ob das reicht, dass man in ein paar Jahren noch über diese Platte sprechen wird, bleibt abzuwarten. Im September 2023 aber ist es einer der schönsten Sommerausklang-Soundtracks, den man im Release-Wirrwarr finden kann.

Die Zärtlichkeit: »Heimweh Meisterwerke« (Tapete)

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