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»Wir sind parteiisch und produzieren Bilder progressiver Proteste«

Das Museum Folkwang zeigt Fotografien des polnischen Künstlers Rafał Milach als Mitglied des Kollektivs Archive of Public Protests

  • Interview: Radek Krolczyk
  • Lesedauer: 9 Min.
Der rote Blitz ist in Polen das Emblem der Protestbewegung Strajk Kobiet (Streik der Frauen) – ein feministisches Symbol.
Der rote Blitz ist in Polen das Emblem der Protestbewegung Strajk Kobiet (Streik der Frauen) – ein feministisches Symbol.

Rafał Milach, Ihr Wirkungsfeld ist der öffentliche Raum. Als Fotograf dokumentieren Sie die Proteste der Zivilgesellschaft. Als Mitglied des Archive of Public Protests (A-P-P) bringen Sie diese Bilder zurück auf die Straße. Gemeinsam mit dem A-P-P produzieren Sie Zeitungen, in denen Fotos vergangener Proteste wie auch Slogans für kommende zu finden sind. Wie würden Sie die politische Öffentlichkeit in Polen beschreiben?

Es ist paradox: Zwar befinden wir uns kurz vor den Parlamentswahlen und die Situation ist politisch aufgeheizt. Dennoch ist es auf den Straßen eher ruhig. Das hat mit der außenpolitischen Lage zu tun. Es scheint so, als habe der Krieg in der Ukraine das politische Klima im Land ein wenig befriedet. Die Aufmerksamkeit gilt derzeit den ukrainischen Flüchtlingen, denen die polnische Gesellschaft größtenteils solidarisch begegnet. Die Parteinahme für die Ukraine ist innerhalb der polnischen Bevölkerung weit weniger strittig als für die arabischen Flüchtlinge im Grenzgebiet zu Belarus beispielsweise. Viele zivilgesellschaftliche Initiativen, die auf der Straße aktiv sind, arbeiten nun in direkten Hilfsprojekten für ukrainische Flüchtlinge.

Diese Einigkeit steht ganz im Gegensatz zu den politischen Protesten der letzten Jahre, bei denen Hunderttausende auf die Straße gingen.

Auf jeden Fall. Die Massenproteste begannen 2020 mit dem Vorhaben der konservativen Regierung, das Abtreibungsrecht zu beschneiden. Die Bewegung auf der Straße war riesig, sie ging weit über feministische Gruppen hinaus. Die Abtreibungsthematik wirkt in Polen polarisierend und löst bei allen sofort heftige emotionale Reaktionen aus. Gegner und Befürworter des Rechts auf Abtreibung sind alle sofort auf 180. Es folgten noch im selben Jahr breite Proteste gegen die homophobe Kampagne des konservativen Präsidentschaftskandidaten Andrzej Duda, der schließlich die Wahl für sich entscheiden konnte. Der liberale Kandidat Rafał Trzaskowski, der als Warschauer Bürgermeister die LGBTQ+-Bewegung unterstützte, schaffte es damals in die Stichwahl gegen Duda.

Interview
RECORD DATE NOT STATED Museum Folkwang : Ausstellung RAFAŁ MILAC...

Rafał Milach (*1978 in Gliwice, Polen) ist Künstler, Fotograf und Mitgründer des Archive of Public Protests (A-P-P). Er erhielt zahlreiche Preise für Fotografie und ist seit diesem Jahr Mitglied von Magnum Photo. Fotograf*innen, Aktivist*innen, Autor*innen, Soziolog*innen und bildenden Künstler*innen. Es wurde 2019 gegründet, um zivilgesellschaftliche Protestbewegungen zu unterstützen. Die Fotografiesammlung wurde vom Museum Folkwang in Essen angekauft.

Zum Abtreibungsrecht haben sich gerade auch immer wieder konservative Kräfte auf der Straße laut zu Wort gemeldet. Bilder dieser reaktionären Proteste sind allerdings in Ihrem Archiv nicht zu finden. Warum?

Es geht uns nicht darum, eine Situation symmetrisch abzubilden. Wir sind parteiisch und produzieren Bilder progressiver Proteste. Dabei verstehen wir uns weniger als neutrale Journalisten denn als Fotoaktivistinnen. Natürlich haben wir in unserem Archiv auch Bilder von rechten Aufmärschen, klerikalen Kundgebungen, selbst von Aktionen irgendwelcher rechtsradikaler Splittergruppen. Aber wir möchten ihnen keine Plattform geben.

Es ist allerdings auffällig, dass auf den Bildern, die Sie veröffentlicht haben, nicht einmal Konfrontationen zwischen Zivilgesellschaft und der repressiven Staatsgewalt zu sehen sind. Das müsste doch von Interesse sein?

Tatsächlich sind die zivilgesellschaftlichen Proteste in Polen sehr wenig konfrontativ. Ich habe vergleichbare Proteste in Ländern wie Frankreich oder Israel besucht. Da sieht das Verhältnis der Demonstrierenden zu Gewalt ganz anders aus. Natürlich gibt es auch in Polen eine militante Antifa. Grundsätzlich aber ist konfrontative Gewalt hier eine Sache der Rechten. Wenn am 11. November, dem polnischen Unabhängigkeitstag, in Warschau militante Nationalisten auf die Straße gehen, dann wollen sie Krieg. Es gibt dann auch Gewalt gegen die Polizei. Mindestens in Polen sind die Bilder auf diese Weise kodiert, und wir versuchen zu vermeiden, die Zivilgesellschaft ikonisch in die Nähe der Rechten zu rücken.

Aber es gibt im A-P-P Dokumentationen rechter Aufmärsche?

Einige unserer Mitglieder besuchen rechte Aufmärsche. Die Bilder bewahren wir im Archiv auf, versuchen ihnen jedoch keine große Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. In den polnischen Medien sind genug solcher Bilder zu sehen. Das wollen wir nicht unterstützen. Wir sehen unsere Aufgabe darin, der Gegenseite zur Sichtbarkeit zu verhelfen. Das Problem ist, dass die Bilder rechter Proteste, selbst wenn sie mit einem kritischen Text versehen sind, doch eine gefährliche Wirkung entfalten können.

Wenn man sich Ihre Bilder ansieht, fällt deren ikonischer Charakter auf. Häufig steht ein Detail im Mittelpunkt, oftmals eine starke Figur.

Wir arbeiten eben nicht wie klassische Fotojournalisten. Man könnte ein Bild natürlich ganz anders aufbauen, den Kontext sichtbar machen, etwa Ort und Zeit. Viele unserer Bilder sind zeichenhafte Verkürzungen. Wir isolieren einzelne Momente aus größeren Ausschnitten, damit werden die Bilder stärker und universeller. Berühmt geworden ist etwa ein Bild mit dem Gesicht einer jungen Frau, mit feministischen Symbolen unterhalb ihrer Augen. Dieses Bild ist vielleicht zu jeder Zeit und überall verständlich. Im Kontext der Proteste selbst sind solche Kürzel brauchbarer. Die ganze Szene, mit der jungen Frau in ihrem Kontext, findet man dann aber im Archiv.

Ist es möglich, solche Bilder zivilgesellschaftlicher Proteste in polnischen Medien unterzubringen?

Das kommt ganz auf die Medien an. Im staatlichen Fernsehen ist es nahezu unmöglich, die privaten Sender hingegen, Polsat und TVN etwa, sind da eher interessiert – letzterer gehört zu Warner Bros. Discovery. Innerhalb der politischen Kräfteverhältnisse in Polen könnte man diese Sender als oppositionell bezeichnen. Vor zwei Jahren sollte sogar speziell für TVN ein eigenes Gesetz erlassen werden. Bei den Zeitungen ist es ähnlich. Da gibt es die liberale »Gazeta Wyborcza« als privatwirtschaftliche Tageszeitung und all die konservativen Lokalzeitungen, die unter dem Dach des Staatskonzerns Polska Press versammelt sind. Sie wurden in den letzten Jahren nach und nach von der öffentlichen Hand zusammengekauft und folgen der Regierungslinie.

Kann man denn einen von Warner Bros. geführten Sender als progressiv bezeichnen?

Wir müssen hier polnische Maßstäbe anlegen. Im Rest Europas wäre rechtsliberal einfach nur rechts, und links wäre vielleicht sozialdemokratisch.

Eigentlich seltsam, dass es in diesem neoliberalen Europa ein Land gibt, dass reihenweise Lokalzeitungen aufkauft. In Deutschland gehen die einfach pleite.

Diese Regierung weiß, dass derjenige, der die Medien steuert, die politische Erzählung bestimmt. Bei den Fernseh- und Radiosendern haben sie das sofort begriffen, für die Zeitungen brauchten sie etwas Zeit. Wir haben noch keine ungarischen Zustände. Ich bin mir aber sicher, dass die Regierungsparteien davon träumen.

In der polnischen Bevölkerung ist die staatssozialistische Vergangenheit des Landes recht unpopulär. Müsste die Idee von Verstaatlichung überhaupt, insbesondere aber die Verstaatlichung von Medien, nicht deshalb auch unpopulär sein?

Es sind Symptome einer korrupten Demokratie, einer Entwicklung hin zu einem autoritären Staat. Die Menschen in Polen wissen heute nicht mehr, wie es war, in einem solchen Staat zu leben. Es gab eine umfangreiche Befragung unter jungen Menschen. Die Mehrheit stand einem autoritären Staat gar nicht mal so ablehnend gegenüber.

Wie präsent ist heute die Tradition alternativer, vielleicht sogar illegaler Medien in Polen? Vor 1989 gab es besonders in Polen sehr viele solcher Zeitschriften und Verlage.

Diese Tradition ist lebendig. Die Szene, die Sie ansprechen, war in den 70er und 80er Jahren vor allem gewerkschaftlich organisiert durch Aktivisten wie Jacek Kuroń. Heute hat es weniger mit der Arbeiterbewegung zu tun, sondern mehr mit ökologischen oder feministischen Aktiven.

Welche Rolle nimmt A-P-P in der polnischen Medienlandschaft ein?

Wir verstehen uns nicht als Agentur, deren Aufgabe es wäre, Mainstream-Medien mit Bildern zu versorgen. Natürlich tauchen unsere Fotos dort manchmal auf. Wir möchten unser Material vor allem aber der Opposition zur Verfügung stellen – Wissenschaftlern, die sich mit der Geschichte der Bewegung beschäftigen, Künstlern oder politischen Aktivisten beispielsweise.

Wenn man die Zeitungen, die A-P-P regelmäßig veröffentlicht, durchblättert, sieht man Szenen aus den Städten. Was geschieht auf dem Land?

Die meisten Proteste finden in den Metropolen statt. Aber nicht nur. Wir haben auch eine Zusammenstellung von Fotos, die auf dem Land entstanden sind. Anlässlich des neuen Abtreibungsrechts etwa gab es einige Kundgebungen in kleineren Städten. Schließlich handelt es sich hier um ein Thema, das Frauen ganz direkt überall betrifft.

Wodurch unterscheiden sich solche Proteste in der Stadt und auf dem Land grundlegend?

Auf dem Land erfordert die Teilnahme an einer Demonstration sehr viel Mut. Die Gefahr geht ja nicht nur von der Polizei aus oder von erklärten Nazis, sondern von der ganz normalen Bevölkerung. Auf einer Demo in Warschau bist du einer von 10 000 und anonym, in einer Kleinstadt bist du unter 25 Personen sehr leicht zu identifizieren.

Wie verändert sich Ihre Position als Fotograf bei Protesten auf dem Land?

Zum einen ist es für mich einfacher, weil ich um die Bildfindung nicht mit anderen Fotografen konkurrieren muss. Ich lebe in Warschau, meistens fotografiere ich dort; die Proteste sind groß, und es gibt mehrere Fotografen. Wenn ich mit dem Auto zu Protesten aufs Land fahre, bin ich allerdings auch alleine und exponiert. Ich verliere meinen Schutz als Vertreter der Presse und werde als Fremdling zum Teil der Proteste. Die Menschen dort schützt die Anwesenheit meiner Kamera zunächst vor Übergriffen. Ich habe auch den Eindruck, dass sie sich stärker fühlen, wenn sie wissen, dass ihre Aktivität die Chance auf eine größere Aufmerksamkeit hat. Ihre Proteste bekommen dann als performativer Akt einen Grund.

Wenn ich noch mal an die ikonischen Fotos in den Zeitungen des A-P-P denke, dann wird die Nähe deutlich zwischen Ihrem fotografischen Ansatz und dem vielleicht speziellen Charakter zivilgesellschaftlicher Proteste in Polen.

Ganz bestimmt. In anderen Ländern, in denen beispielsweise die Spannung zwischen Demonstrierenden und der Polizei größer wäre oder gar der Druck, anonym zu bleiben, müssten wir ganz anders arbeiten. Die Proteste hier sind friedlich und performativ. Die Zusammenhänge sind nicht groß und wir kennen uns. Wir müssen nicht um das Vertrauen der Aktivisten kämpfen, und sie müssen sich keine Sorgen darüber machen, ob wir ihnen mit unseren Fotos etwas antun. Als wir das Archiv gründeten, haben wir uns Gedanken darüber gemacht, ob wir die Aktivisten mit unseren Bildern nicht vielleicht in Gefahr bringen könnten. Ein Blick in unsere öffentlichen Archive könnte der Polizei dabei helfen, Menschen zu identifizieren. Im Moment haben wir in Polen eine Situation, in der wir das machen können. Die Proteste sind friedlich und der Staat noch nicht totalitär. In Belarus wäre dieses Archiv nicht möglich. Wir haben die Freiheit, für deren Erhalt wir kämpfen, noch nicht verloren. In Israel gibt es übrigens politisch eine vergleichbare Situation. Die Leute kämpfen dort auch gegen den autoritären Umbau der Justiz und für den Erhalt ihrer Freiheit. Aber sie tun es auf eine so militante Weise, wie es in Polen undenkbar wäre. Solche Proteste würden mit unserem Ansatz zu fotografieren nicht zusammenpassen. Natürlich kann sich die politische Situation jederzeit in einer Weise ändern, dass auch wir unsere fotografische Praxis werden ändern müssen.

»Rafał Milach. The Archive of Public Protests«, bis 1. Januar 2024, Museum Folkwang, Essen.
www.rafalmilach.com
www.archiwumprotestow.pl/en

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