Flüchtlingsaktivistin: »Wir können etwas zurückgeben«

Jacky Sonnie setzt sich dafür ein, Geflüchtete aus der Isolation zu holen

  • Interview: Robin Jaspert und Lara Wörner
  • Lesedauer: 6 Min.

Die EU schottet sich derzeit immer mehr gegen Flüchtlinge ab. Überrascht Sie das?

Nein, überhaupt nicht. Statt Systeme zu schaffen, um Menschen auf der Flucht zu schützen und dafür zu sorgen, dass sie sicher weiterreisen können, setzen wir die gefährliche Restriktion fort. Zwischen 2014 und 2019 sind schätzungsweise 20 000 Migrant*innen bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen, umgekommen. Täglich verschwinden Menschen beim Versuch, die Grenze zu überqueren, und nichts geschieht.

Vor Kurzem wurde das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) reformiert. Dies erleichtert es den europäischen Staaten, Menschen in sogenannte Drittstaaten abzuschieben. Was halten Sie davon?

Abschiebung ist keine Lösung. Die meisten Menschen, die das Mittelmeer überqueren oder durch die Wüste flüchten, wissen, was sie erwartet, und entscheiden sich trotzdem dafür. Sie würden das gleiche Risiko erneut eingehen.

Nancy Faeser möchte die Höchstdauer der Abschiebehaft von zehn auf 28 Tage verlängern. Wie wirkt sich das auf Menschen auf der Flucht aus?

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Abschiebung macht die Betroffenen fertig. Sie bringt sie um den Verstand. Sie sind selbstmordgefährdet, wenn sie im Abschiebezentrum festsitzen. Wenn ich eines gelernt habe, seit ich hier bin, dann ist es, dass Deutschland die Kunst der Frustration perfektioniert hat. Sie frustrieren dich, bis du dich unterordnest.

Welche Rolle spielt Isolation im Asylsystem?

Ich spreche aus Erfahrung, wenn ich sage, dass Isolation mit Einsamkeit und Depression einhergeht. Die deutschen Behörden stecken uns in kleine Häuser mitten im Wald. Dort leben oft keine anderen Menschen. Du steckst in einem Schwebezustand. Ständig wird uns gesagt: »Ihr müsst euch integrieren. Ihr müsst dies und jenes tun.« Aber gleichzeitig verhindern sie, dass wir uns integrieren. Nach Jahren des Wartens wird der Asylantrag abgelehnt und man kommt in ein Abschiebegefängnis. Als Gruppe versuchen wir, diese unterdrückenden Systeme zu durchbrechen.

Wie arbeitet »Break Isolation« (BIG)?

BIG wurde im Februar 2019 von und für geflüchtete Frauen im und außerhalb des deutschen Asylsystems gegründet. Wir schaffen eine Plattform, um frei für und über uns zu sprechen. Wenn wir die Lager (Sammelunterkünfte, Anm. d. Red.) besuchen, ermitteln wir die Bedürfnisse der Frauen und organisieren Workshops, oft Rechtsworkshops.

Mit welchen Herausforderungen sind Frauen auf der Flucht und in den Unterkünften konfrontiert?

Menschen auf der Flucht sind ein Kollektiv, das vor etwas flieht. Aber in dieser Gruppe muss man sich als Frau immer bewusst sein, dass man zwar flieht, sich auf der Flucht aber immer noch schützen muss. Man kann in der Gruppe mit sexualisierter Gewalt konfrontiert werden. Man wird als schwächstes Glied angesehen. Frauen sind einem höheren Risiko ausgesetzt, entführt und zur Heirat gezwungen zu werden. Ich weiß von einer Frau, die von der Gruppe, mit der sie unterwegs war, mehrmals sexuell missbraucht wurde. Sie hatte die Wahl: Vergewaltigung oder Tod. Diese Frau wird nie mehr dieselbe sein. In Eisenhüttenstadt gab es schon vor fünf Jahren einen Mann, der mit dem Auto um das Lager fuhr und versuchte, mit Frauen Sex zu haben. Er hat angehalten und gefragt: »Willst du Sex für Geld?« Das ist sexuelle Ausbeutung und passiert oft.

Hängt insbesondere die Flucht von Frauen auch mit dem Klimawandel zusammen?

Frauen fliehen meist, weil das Land, wo sie vorher gelebt haben, unbewohnbar geworden ist. Wenn sie sich auf den Weg machen, besteht immer die Gefahr sexueller Gewalt. Nach Schätzungen der UN sind 80 Prozent der vom Klimawandel betroffenen Frauen. Sie sind einem höheren Risiko von Zwangsheirat, Menschenhandel und Zwangsarbeit ausgesetzt und müssen sich meist um die Kinder kümmern, was die Überlebenschancen der Frauen verringert.

Die ehemals kolonisierten Länder sind anfälliger für die Folgen der Klimakrise. Wie hängt das mit Migration zusammen?

Im kolonialen Wettlauf wurde der Zugang zu Land als Quelle für Ressourcen betrachtet, um die Macht der Imperien zu vergrößern. Die Bevölkerung wurde als Sklaven gehandelt und entweder als zu unterdrückendes und zu beseitigendes Hindernis oder als zu unterwerfende Arbeitskraft betrachtet. Die Auswirkungen sind bis heute spürbar. Die meisten Regierungen der kolonisierten Länder werden noch immer vom globalen Norden kontrolliert. Wir können unser Land nicht mehr so wie früher bewirtschaften. Der globale Norden ist Hauptverursacher der Emissionen, aber am wenigsten davon betroffen. Wir müssen mit am Tisch sitzen, wenn über die Klimakrise gesprochen wird. Man kann nicht über die Auswirkungen für mich sprechen, wenn ich nicht dabei bin.

Was wollen Sie dem oft rassistischen Diskurs um Klimakrise und Migration entgegensetzen?

In 90 Prozent der Fälle gäbe es ohne Klimakrise keine Migration. Wir müssen anerkennen, dass Klimagerechtigkeit nicht ohne wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit existieren kann. Im Norden Kenias und Somalias gab es über fünf Jahre lang praktisch keinen Regen. Das liegt an der Ausbeutung des Landes und der Verbrennung fossiler Brennstoffe. Allen Menschen, die fliehen, müssen sichere Fluchtwege gewährt werden.

Kann das System der Sammelunterkünfte reformiert werden oder muss es abgeschafft werden?

Man kann es nicht reformieren. Es macht keinen Sinn, Integration zu fordern, wenn man Menschen wie Kriminelle in Lager steckt. Es muss abgeschafft werden. Die Menschen müssen sich in die Gemeinschaften integrieren können. Sie müssen sich kennen- und einander vertrauen lernen. Seit die Leute aus der Ukraine kommen, sehen wir, wie die weißen Ukrainer*innen in die Gesellschaft integriert werden. Nicht die People of Color. Das kann man aber für alle machen.

Sie sind also optimistisch?

Ich lebe in einem System, das darauf ausgerichtet ist, mich zu erniedrigen. Die Leute sehen mich nicht als Menschen. Sie sehen mich als Schwarz. Ich liebe es, Schwarz zu sein. Aber sie schauen auf mich herab. Ich werde nicht zulassen, dass das mein ganzes Tun und Sein bestimmt.

Worauf werden Sie sich als nächstes konzentrieren?

Im Moment sind wir dabei, ein Projekt namens Ubuntu Soup Kitchen abzuschließen. Wir haben es gestartet, weil es das Bild gibt, dass Geflüchtete nur nehmen wollen. Aber wir können teilen und der Gesellschaft etwas zurückgeben. Wir kochen und teilen das Essen mit den Familien auf der Straße. Einige unserer Gründerinnen arbeiten auf EU-Ebene und versuchen, die Systeme von innen heraus zu verändern. Sie versuchen, sich einzubringen und sicherzustellen, dass diese Entscheidungen nicht ohne uns getroffen werden. Wir sind sehr beschäftigt mit vielen Dingen, um die Welt zu verändern.

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