»Hamas hat Tor zur Hölle in den Gazastreifen geöffnet«

Der ausgerufene Kriegszustand erlaubt Israel »weitreichende militärische Schritte«

  • René Heilig
  • Lesedauer: 3 Min.

Dass die Hamas Israel abermals angreifen wird, hat niemand bezweifelt. Dennoch war Israel total überrascht von dem beispiellosen Großangriff, der am jüdischen Feiertag Simchat Tora gegen 6.30 Uhr Ortszeit begann. Nahezu gleichzeitig wurden 22 strategisch relevante Ziele im Süden Israels angegriffen. Die Hamas sprach von über 5000 Raketen, die sie bei ihrer »Operation Al-Aksa-Flut« abgefeuert haben will. Israel registrierte 2200 sprengstoffgefüllte Flugkörper. Wie auch immer, die zahlreichen Explosionen waren bis Tel Aviv und Jerusalem zu hören.

Die Ziele wurden präziser getroffen als bei bisherigen Attacken. Gegen diese Schwärme des Todes war das hochgelobte Iron-Dome-Abwehrsystem machtlos. Auch, weil es der Hamas offenbar gelang, wichtigste Komponenten des KI-gesteuerten Raketenabwehrsystems zu neutralisieren. Nachdem die Grenzanlagen an einigen Stellen durchbrochen waren, schickten die Kassam-Brigaden – das ist der bewaffnete Arm der Hamas – hochmobile Motorrad-Staffeln aus, die rasch in entfernte israelische Siedlungen und Städte eindrangen. Militärstützpunkte wurden überrannt. Auch von See her näherten sich Hit-Teams. Völlig neu ist, dass die Hamas über eine »Luftwaffe« verfügt. Man sah motorisierte Gleitschirm- und Drohnenangriffen.

Gegen solch gut geplante Attacken hilft die bisher demonstrierte technologische Überlegenheit der israelischen Streitkräfte nichts. Die unmittelbaren Ergebnisse des »Al-Aqsa-Sturms« sind schockierend. Mindestens 600 Menschen wurden auf israelischer Seite getötet. Darüber hinaus wurden Tausende verletzt und mehr als 160 in den Gazastreifen verschleppt. Diese Geiselnahme verkompliziert die Situation, vor allem, wenn es zu öffentlichen Hinrichtungen kommen sollte. Dies könnte Israel zu einer Bodenoperation im Gazastreifen und möglicherweise auch im Westjordanland bewegen. Im schlimmsten Fall könnte das zu einem regionalen Konflikt führen. Bislang, so hört man aus Washington, seien US-Soldaten, die in Israel als Ausbilder stationiert sind, nicht betroffen.

Am Sonntagnachmittag wurde in Kfar Asa, Jatid, Kissufim, Beeri, Kfar Asa, Sderot und Jad Mordechai sowie in der einige Kilometer westlich nahe Beerscheba gelegenen Kleinstadt Ofakim noch immer gekämpft. »Wir beginnen einen langen und schwierigen Krieg«, sagte Premier Benjamin Netanjahu. Die erste Phase ende jetzt mit der »Vernichtung des größten Teils der feindlichen Kräfte, die in unser Gebiet eingedrungen sind«, hieß es nach der Sitzung des Sicherheitsrats. Zugleich habe man eine Offensivphase eingeleitet, die ohne Einschränkung so lange fortgesetzt werde, bis die Ziele erreicht seien. Der israelische Generalmajor Ghasan Alyan sagt, die Hamas habe »die Tore der Hölle in den Gazastreifen geöffnet«. Er meinte die Angriffe israelischer Kampfjets sowie Drohnen, die am Sonntag begannen. Ob sich andere Feinde Israels – vor allem die Hisbollah, die im Libanon das Sagen hat – dem Kampf anschließen und wie Israels Reaktion ausschauen kann, ist unklar. Am Sonntagmorgen kam es zu einem begrenzten Schusswechsel zwischen der Hisbollah und israelischen Truppen.

Fragen stellen sich. Wie konnte die Hamas – trotz Blockade – so viel militärisch nutzbares Material, ins Land schmuggeln? Wer hat die militärisch bislang wenig talentierte Terrortruppe Hamas zu solch schlagkräftigen Verbänden geformt? Natürlich richtet sich dabei der Blick auf den Iran. Doch die Taktik der Angreifer lässt ebenso Erinnerungen an den Islamischen Staat (IS) aufkommen. Auch Söldner aus anderen, derzeit weniger aktiven Kriegsherden wie dem Jemen, sind verfügbar und aus dem Ukraine-Krieg hat die Hamas nicht nur gelernt, wie man Propaganda macht. Bei allen Überlegungen über Weiterungen des Konflikts darf nicht vergessen werden: Israel ist eine Atommacht.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!