Ist Gymnastik wertvoller als Gaming?

Der Mensch ist nur Mensch, wo er spielt. Warum werden dann hierzulande Computerspiele so wenig gefördert?

  • Ralf Fischer
  • Lesedauer: 5 Min.
Gamescom 2023 in Köln: Hier bin ich Mensch, hier spiel ich fein.
Gamescom 2023 in Köln: Hier bin ich Mensch, hier spiel ich fein.

Was ist der Spieltrieb? »Ein dem Menschen ebenso wie höher entwickelten Tieren angeborener Verhaltensimpuls«, stellt Wikipedia äußerst nüchtern fest. Allgemein gilt das Spielen als einer der ältesten kulturbildenden Faktoren, es schult die Fantasie und die Konzentration. Trotzdem ruft das Daddeln auf der Playstation zumeist leichtes Nasenrümpfen hervor. Aber nicht bei Angela Merkel: »Seit der Mensch denkt, spielt er auch«, erklärte die damalige Bundeskanzlerin 2017 bei der Eröffnung der wichtigsten Computerspielmesse in Deutschland, der Gamescom in Köln. Und Merkel ist übrigens eine begeisterte Operngängerin. In ihrer Rede verwies sie auf ein Bonmot von Friedrich Schiller: »Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« Kaum kann man’s schöner sagen!

Spielerisches Lernen gilt gemeinhin ab dem Kleinkindalter als pädagogisch äußerst wertvoll. Das Sammeln von Platintrophäen in Videogames hingegen nicht. Dass die Gaming-Branche 2022 weltweit 201 Milliarden Euro einnahm, laut dem Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft etwa das Siebenfache dessen, was im vergangenen Jahr in die Kinokassen rund um den Globus floss, lässt die wenigsten Kulturträger umdenken. Allein für Spielwährung und Mikrotransaktionen in Computerspielen wurde hierzulande im vergangenen Jahr mehr ausgegeben als für Musik-Streaming und Kino-Tickets zusammengerechnet, nämlich knapp 4,5 Milliarden Euro.

Weit mehr als 90 Prozent des in Deutschland generierten Umsatzes läuft über Importe. Präzisere Angaben gibt es nicht, da der Inlands-Marktanteil seit zwei Jahren nicht mehr publiziert wird. Aus gutem Grund: Die deutsche Gaming-Industrie ist eine Schimäre. Keines der marktführenden Unternehmen ist hierzulande angesiedelt, abgesehen von einem kleinen Standort in Düsseldorf. Dort entwickelt zwar das größte europäische Unternehmen Ubisoft die Strategiespielereihe »Anno«, aber auch dieses Spiel ist im weltweiten Maßstab gesehen nur ein unbedeutendes Nischenprodukt. Selbst der Branchenverband Games spricht in Bezug auf Deutschland von einer »mittelständischen Prägung«.

Der aufwendige Versuch von Ubisoft, die hierzulande einst entwickelte Spielereihe »Die Siedler« mit einem neuen Teil wiederzubeleben, ist Anfang des Jahres krachend gescheitert. Trotz jahrelanger Entwicklung fällten die Kritiker ein derart vernichtendes Urteil über den Reboot, dass die Marke als nachhaltig beschädigt gilt. Die diesjährige Veröffentlichung des Spiels »Herr der Ringe: Gollum« durch das Hamburger Unternehmen Daedalic Entertainment endete ebenfalls in einem Desaster. Das Spiel, in dessen Entwicklung das Studio mehr als 15 Millionen Euro gesteckt hatte, war nicht nur finanziell ein Flop. Daedalic Entertainment lieferte ein Spiel ab, das weder grafisch noch technisch dem Stand der Zeit entspricht. Die Bewertungen für das Spiel lagen im unteren Drittel. Es sei derart »unrettbar verloren und fies verunstaltet«, dass man nur »Mitleid empfindet«, urteilte das Fachmagazin »Gamestar« in seiner Besprechung.

Die Konsequenz aus dem Fiasko: Das 2007 gegründete Unternehmen wickelte im Juni seine Entwicklungsabteilung ab und verkündete, in Zukunft keine eigenen Spiele mehr zu produzieren. Ende August folgte dann das renommierte Entwicklerstudio Mimimi aus München. In einer Mitteilung erklärten die beiden Studiogründer Dominik Abé und Johannes Roth, aus persönlichen Gründen nach 15 Jahren die Pforten zu schließen.

Der Grund sei aber nicht mangelnder finanzieller Erfolg. Die Spiele des deutschen Entwicklers – wie zuletzt der Strategiehit »Shadow Gambit« – erzielten sehr gute Wertungen und waren finanziell kein Reinfall. Jedoch sei aus Sicht der Gründer die ständige Suche nach finanziellen Mitteln für das nächste Projekt mit einem zu hohen persönlichen Preis verbunden gewesen. Die daraus erwachsende Belastung sei für sie und ihre Familien nicht mehr tragbar.

Bei ihrem Besuch auf der Gamescom vor sechs Jahren ließ Angela Merkel in ihrer Rede durchblicken, dass man »alle Akteure zusammenbringen« wolle, um »sehr genau anzuschauen, was andere Länder tun«, um in Deutschland auf ein »Level playing field« zu kommen. Seit September 2020 können nun Unternehmen aus dem Bereich der Spieleentwicklung ihre Förderanträge beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz einreichen. Erst im November letzten Jahres wurden die Mittel für 2023 von ursprünglich geplanten 48,8 Millionen auf 70 Millionen Euro aufgestockt.

Der Branchenverband Game fordert dagegen eine Erhöhung der Fördermittel auf 125 Millionen Euro. Mittelfristig soll eine Kombination aus diesem Fonds sowie einem steuerlichen Fördermodell Deutschland international wieder wettbewerbsfähig machen. Doch daran gibt es berechtigte Zweifel. Kurz bevor Daedalic Entertainment die Schließung seiner Entwicklungsabteilung bekannt gab, wurden dem Unternehmen 2 Millionen Euro als Förderung vom Wirtschaftsministerium bereitgestellt, um ein weiteres Spiel im »Herr der Ringe«-Universum zu produzieren. Doch die Bereitstellung dieser Finanzmittel reichte nicht aus, um das ambitionierte Projekt weiterzuführen.

Der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, die sogenannte AAA-Spiele entwickeln, die im internationalen Vergleich mithalten können, ist neben den fehlenden Möglichkeiten, ausreichend Risikokapital zu akquirieren, die größte Hürde im Vergleich zu anderen Ländern. Die schlechten Bewertungen für das Spiel »Herr der Ringe: Gollum« resultierten aus dem repetitiven Gameplay, schlechter Grafik und unzähligen Bugs.

Das alles kann auf eine mangelnde Finanzierung hindeuten, aber in der Gesamtheit macht es den Mangel an Entwicklungspotential deutlich. Im Bereich Spieleentwicklung fehlt es an Fachkräften. Dafür gibt es nur einen kulturphilosophischen Grund: weil Gaming hierzulande das Stigma anhaftet, keine Kunstform als solche darzustellen. Im Land der Dichter und Denker wird jede noch so profane Aufführung von kollektiver Gruppengymnastik als künstlerischer Ausdruck gefeiert, während man ein komplexes Rollenspiel mit einer 1000 Seiten umfassenden Hintergrundgeschichte für unwichtig erachtet, bloß weil es in einem digitalen Medium aufgeführt wird.

Können Sie sich noch an den sozialpädagogischen Furor erinnern, mit dem noch in den 90er Jahren die sogenannten Videospiele bekämpft wurden? Der ist heute abgeklungen, da auch Rentner zu Hause daddeln, ganz ohne ihre Enkel. Aber ein Sieg über die Ignoranz sieht anders aus. Die Zeit, die man mit dem Spielen verbringt, mag wertvoll sein, nur die Spiele sollen es nicht sein. Aus diesem Grund sind hierzulande die Ausbildungsmöglichkeiten, einen Abschluss im Bereich Spieleentwicklung zu erlangen, äußerst rar gesät. Genau an diesem Punkt müssten zuerst die gesellschaftlichen Weichen neu gestellt werden.

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