Krieg im Nahen Osten: Hilfsgüter für Gaza stehen an der Grenze

Ägypten und Israel können sich nicht auf einen Modus zur Öffnung des Übergangs Rafah einigen

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 4 Min.

Was denken die Menschen in Gaza, wenigstens die, die man kennt? Es ist schwer, die Kontakte in diesen Tagen ans Telefon zu bekommen. Wie viele andere auch sind sie auf der Suche nach einem sicheren Ort, nach etwas Essbarem. Der Ladestand des Handy-Akkus sei ein kostbares Gut, reserviert für die Allerliebsten, sagt der eine, der kurz antwortet: Eine komische Atmosphäre herrsche, Resignation vor der Hamas und ihren allmächtigen Brigaden, vor Israels Militär; »für Raketen reicht’s immer. Für uns Menschen nicht.«

Nach den Terroranschlägen der Hamas in Israel vor elf Tagen bahne sich nun eine »echte Katastrophe« im Gazastreifen an, warnt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) – und viele andere UN-Unterorganisationen und Nichtregierungsgruppen schließen sich der Warnung an. Das israelische Militär hatte gut eine Million Menschen am Freitag aufgefordert, in den Süden des extrem dicht besiedelten Gazastreifens zu fliehen; Hunderttausende taten das auch. Und müssen nun in der Grenzregion zu Ägypten unter freiem Himmel, ohne Nahrungsmittel und eine ausreichende Wasserversorgung auskommen. In Gaza-Stadt selbst sind ganze Stadtteile zerstört. Grund: Hamas und Islamischer Dschihad haben ihre Kommandoeinrichtungen, ihre Waffenlager und Ausbildungsstätten mitten in den Wohnvierteln untergebracht, wie auch Mitarbeiter der Uno und westliche Diplomaten bestätigen.

Es ist ein nahezu unlösbares Dilemma: Nach dem letzten großen Gaza-Krieg 2014 (aber nicht der letzten Konfrontation mit der Hamas) vertraute man in Israel der Technik: Der Grenzzaun zum Gazastreifen wurde technisch hochgerüstet, keine Maus sollte mehr unbemerkt durch. Gleichzeitig setzte man auf einen vorsichtigen Dialog mit der Hamas unter ägyptischer Vermittlung. Zeitweise schien es, als habe man bessere Gesprächsgrundlagen mit der Hamas als mit der offiziellen palästinensischen Führung in Ramallah.

Vor elf Tagen wurde auf grausame Weise klar, dass diese Herangehensweise gescheitert ist. Der Anschlag erreichte eine völlig neue Stufe an Brutalität. Die Zahl der abgeschossenen Raketen zeigt zudem, dass die Hamas es geschafft hat, ein Arsenal aufzubauen, dessen Größe weit über dem von vor dem Krieg 2014 liegt. Und das, obwohl sowohl Ägypten als auch Israel alles, was in den Gazastreifen eingeführt wurde, über Jahre hinweg akribisch genau kontrolliert hatten.

In Hintergrundgesprächen stimmen auch Vertreter der Regierungen Ägyptens und Jordaniens zu, dass es im Grunde keine Alternative zur militärischen Option gibt – auch aus Eigeninteresse: In Jordanien ist ein großer Teil der Bevölkerung palästinensischer Abstammung. In Ägypten hat die Regierung von Präsident Abdel Fattah Al-Sisi Probleme mit der Muslimbruderschaft, mit der die Hamas eng verbunden ist.

Während die Flüchtlinge auf der Gaza-Seite der Grenze ausharren, lagern auf der ägyptischen Seite 2000 Tonnen Hilfsgüter, die die Uno eingeflogen hat; weitere will die Europäische Union (EU) per Luftbrücke liefern. Doch derzeit geht durch den Übergang Rafah nichts durch. Offiziell geschlossen sei das Terminal nicht, so Ägyptens Außenminister Samih Schukri, aber durch einen Luftangriff sei es unbenutzbar geworden. Außerdem habe man es noch nicht geschafft, mit Israel die Einfuhr der Hilfsgüter zu koordinieren.

Mitarbeiter des Uno-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (UNWRA) sagen jedoch, dass sich die Ägypter nicht wirklich Mühe geben. Warum das so ist, daran scheiden sich die Geister. Eine Theorie lautet, dass man in Kairo durchaus ein Ende der Hamas begrüßen würde und nichts tun will, was sie stärken könnte. Eine andere, dass man den Preis in die Höhe treiben will.

Denn in Europa und den USA ist in den vergangenen Tagen der Ruf laut geworden, Ägypten und Jordanien sollten Flüchtlinge aus dem Gazastreifen aufnehmen. Beide Regierungen lehnen das offiziell ab; ägyptische Regierungsvertreter benutzen gar eine unüblich direkte Sprache. Denn beide Länder sind wirtschaftlich stark angeschlagen; zudem befürchtet man, dass auch Terroristen und Funktionäre der Hamas Zuflucht in den beiden Ländern finden könnten. Im Umfeld der EU und der europäischen Regierungen indes geht man davon aus, dass sich die Ägypter schon breit schlagen lassen würden – wenn das Geld stimmt.

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