Journalistische Gegenöffentlichkeit

Olivier David skizziert das Schrieben über die untere Klasse

Über die untere Klasse zu schreiben, ist mit einer besonderen Herausforderung verbunden. Diese Herausforderung ergibt sich aus dem Gedanken, dass, wer sein Herz nicht auf stumm gestellt hat, versucht, für Marginalisierte zu schreiben. Und da geht es schon los. Wie geht man das an? Ist alles, was arme Menschen sagen, richtig? Muss, was von Armut betroffenen Menschen gesagt wird, nur noch durch den Verstärker gejagt werden? Wie sieht sie aus, die richtige Beschäftigung mit den Ausgebeuteten und Entrechteten?

Um diese Folge meiner Kolumne vom Ende her zu denken, lassen Sie mich eins sagen: Sie werden enttäuscht sein. Wie soll man ein derart komplexes Thema auf 4100 Zeichen besprechen? Mit Ergebnis UND richtigem Rechenweg? Soll das so aussehen: Armut + Empathie + Klassenkampf = Klassenlose Gesellschaft? Nein, so einfach ist das nicht. 

Vielleicht aber stoßen Sie beim Lesen durch einen meiner Gedanken darauf, dass ich spinne und das alles in Wahrheit ganz anders sein muss. Und dann haben Sie möglicherweise die Lösung – die Sie dann aber bitte nicht verheimlichen. Es geht ja darum, dass wir irgendwie vorankommen mit diesem Problem.

Olivier David

Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien sein erstes Buch »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen reflektiert. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. David studiert in Hildesheim literarisches Schreiben. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen.

Der Autor Mesut Bayraktar macht sich schon seit längerem Gedanken darüber, wie das Schreiben für die untere Klasse aussehen muss. In einem Text, den er im August für diese Zeitung geschrieben hat, straft er die Idee Lügen, dass Armut aus einem Mangel an Gütern entsteht. Diesen Lügen, schreibt Mesut (wir kennen uns und ich darf ihn duzen), müsse man eine »Theorie der Armut entgegensetzen, die nicht bloß beschreibt, was Armen fehlt, sondern die vorbehaltlos widerspiegelt, was sie in der kapitalistischen Gesellschaft zwangsläufig umgibt: Gewalt, Lärm, Depression, Drogen, Scham, Wut, Enge, Polizei, Justiz«.

In meinem Leben habe ich vielfach einen Mangel gespürt. In der Privatschule, auf die meine Mutter mich einschulte, war ich der Idiot, der am zweiten Tag der Klassenfahrt schon kein Taschengeld hatte, genau wie ich der Trottel ohne Fernseher war. Ich kann das hier noch lange ausführen, aber der Punkt ist klar. 

Das Problem hierbei ist, und das begreife ich erst jetzt: Ich bin dem Framing unserer Klassengesellschaft unterlegen. Haben Sie es bemerkt, dass ich »Idiot« und »Trottel« geschrieben habe? Harte Worte für ein Kind, das nichts für seine Armut konnte – wie niemand etwas für seine Armut kann. 

Ich habe aus jener Sicht gedacht und gefühlt, mit der unsere Gesellschaft auf Ungleichheit schaut. Ich habe von oben auf mich selbst herabgesehen. Bevor Sie jetzt versuchen, sich das bildlich vorzustellen und sich den Hals verrenken, um das zu sehen, was Ihnen auch ein Spiegel böte, lassen Sie mich es Ihnen sagen: Ja, das geht, man kann auf sich selbst herabschauen. Nur besonders sinnvoll ist es nicht. 

Da, wo die Gesellschaft (und dadurch ich gleich mit) den Mangel sieht, da sieht Mesut Reichtum. Und er problematisiert ihn als das, was er ist: die Bedingung für mein weniges Taschengeld, der Grund, warum wir früher keinen Fernseher hatten. Und vieles mehr.

Anfang Oktober besuche ich Mesut in Hamburg. Er holt mich vom Bahnhof ab, es ist Ersatzverkehr, alles ist durcheinander, ich steige in den falschen Bus, aber am Ende sitzen wir bei ihm zu Hause und reden über die Verantwortung Schreibender. In diesem Moment fühlt es sich nicht richtig an, unser Gespräch mit dem Handy aufzunehmen, also schreibe ich nur eine einzige Notiz in meine App. Es sind zwei Sätze, die Mesut sagt, die ich nun mit mir herumtrage und versuche, sie auf mein Schreiben anzuwenden. »Die Frage ist, wie kann man die eigene Position nutzen, um eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen? Wie kann ich den gesellschaftlichen Antagonismus im Schreiben organisieren?«

Vielleicht hilft es, sich diese Fragen vor jedem Text zu stellen.

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