Soziale Arbeit geht in die Offensive

Ein Solidaritätsbündnis ruft zum betrieblichen Kampf und zur sozialen Revolution auf

  • Jule Meier
  • Lesedauer: 5 Min.
So­zi­al­ar­bei­te­nde protestieren unter dem Motto »Soziale Arbeit am Limit« und »TVL für Alle - Soziale Arbeit in die Offensive«.
So­zi­al­ar­bei­te­nde protestieren unter dem Motto »Soziale Arbeit am Limit« und »TVL für Alle - Soziale Arbeit in die Offensive«.

Ein Lehrer bringt Kindern das Lesen bei, eine Rentnerin wird von einer Pflegerin gewaschen, eine Professorin unterrichtet ihre Studierenden, ein Wohnungsloser steigt in den Kältebus, eine geflüchtete Familie erhält eine Mahlzeit und ein Depressiver Therapie: Was haben alle diese Situationen gemeinsam? In all diesen Momenten findet soziale Arbeit statt. Jeder Mensch ist auf Hilfe angewiesen – wir lernen nun mal nicht allein. Auch Krisen gehören zum Leben dazu. Doch für immer mehr Menschen in Berlin wird das Leben zur Dauerkrise. Beschäftigte der sozialen Arbeit sind »am Limit« und fordern »ein Ende des Kaputtsparens bei steigenden Anforderungen«.

»Streik, Streik, Streik heißt die Devise – wir zahlen nicht für eure Krise!«, ruft Sozialarbeiter Marc Seilheimer ins Mikrofon vom Lautsprecherwagen. Die Sonne wärmt am Samstagnachmittag das bunte Publikum am Weinbergspark: Wo sonst das gutbürgerliche Milieu Mittes bruncht und Tourist*innen Fotos für Instagram schießen, sind heute viele gelbe Westen, rote Fahnen, Kinder und Gewerkschafter*innen zu sehen. »Tag für Tag beobachten wir, was es bedeutet, arm zu sein im Kapitalismus«, erzählt eine Sozialarbeiterin auf der Bühne. »Wir alle haben viel zu viele Fälle und zu wenig Zeit. Darunter leidet unsere körperliche und psychische Gesundheit.« Viele der hier Demonstrierenden arbeiten getrennt voneinander – in befristeten Arbeitsverträgen oder als Honorarkräfte. Aber am heutigen Tag wollen sie »gemeinsam für einen sozialen Bereich« stehen.

Julia Franz und Barbara Schäuble sind Professorinnen an der Alice-Salomon-Hochschule. 2020 sind sie Verdi beigetreten. »Dass es eng wird«, bekommen sie in der Hochschule täglich mit: »Unsere eigenen Arbeitsbedingungen verschlechtern sich wie die Bedingungen in der Praxis. 60-Stunden-Wochen sind normal. Wenn die Lehre unter Druck ist und die Praxis auch, bleibt zu wenig Raum für Professionalisierung durch die Reflexion der Praxis.« Als Stimme der Hochschullehre informieren sie auch von einer wachsenden Politisierung ihrer Studierenden: »Man merkt das nicht nur in den Gesprächen, sondern auch in der Themenwahl der Bachelor- und Masterarbeiten. Die Studierenden fragen sogar nach ›Organizing‹-Seminaren«, berichten sie gegenüber »nd«.

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»Während Begriffe wie ›Wohlfahrtsstaat‹ oder ›soziale Marktwirtschaft‹ noch in Gebrauch waren, wurde der Staat schon nach neoliberalen Wirtschaftsvorstellungen umgebaut. Menschen in schwierigen Lebenssituationen wurde unterstellt, sich nicht genügend aus eigener Kraft um die Sicherung ihrer Existenz zu kümmern.« Ein Sprecher der Freien Arbeiter*innenunion (FAU) zeichnet einen historischen Abriss des Sparzwangs im sozialen Sektor der vergangenen Jahrzehnte. »Setzen wir der Gewalt von Kapital und Staat die Macht der Solidarität von Proletariat und Prekariat entgegen«, ruft er und nennt den »Ungehorsam« eine Strategie zum Überleben.

Su ist Sozialarbeiterin und engagiert sich im »Solitreff Neukölln«. Sie verbindet den Kampf für eine bessere soziale Infrastruktur mit Antifaschismus. »Es ist überall im sozialen Bereich beobachtbar, dass Leute nach unten treten, wenn es ihnen selber schlecht geht. Wenn das Geld und die Grundversorgung fehlen, fangen die Konflikte an zuzunehmen und die Leute grenzen sich immer weiter nach unten ab. Das trägt am Ende dazu bei, dass die AfD gewinnt«, berichtet sie gegenüber »nd«.

Eine Sozialarbeiterin von »Xenion«, einem Verein, der psychosoziale Behandlung für traumatisierte Geflüchtete und Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen anbietet, macht auf die mangelnde Versorgung Geflüchteter in Berlin aufmerksam. »Menschen in Gemeinschaftsunterkünften haben vier Quadratmeter Platz, das ist weniger als eine Zelle im Knast«, ruft sie ins Mikrofon. Sie fordert »antirassistische Standards und gut bezahlte Arbeit« und setzt sich für bessere Arbeitsbedingungen ein, »damit Menschen nach ihrer Flucht besser unterstützt werden«.

Tamara von »Klasse gegen Klasse« arbeitet in der Eingliederungshilfe mit psychisch Kranken. »In meinem Betrieb wird gesagt, wir bräuchten keinen Betriebsrat, da wir doch alle eine große Familie seien«, ruft sie bissig ins Mikrofon. Sie macht auf die Kündigung ihrer Kollegin Inés Heider aufmerksam. Die Sozialarbeiterin wurde von der Technischen Jugendfreizeit- und Bildungsgesellschaft (TJFBG) fristlos gekündigt, da sie über einen E-Mail-Verteiler ihre Kolleg*innen über eine Kundgebung gegen Sparmaßnahmen im sozialen Bereich informiert hatte. »Das ist Union Busting«, ruft Tamara ins Mikrofon.

Inzwischen ist die Kundgebung vom Weinbergspark in einem Demonstrationszug zum Roten Rathaus gelaufen. »Fuck you« von Lily Allen dröhnt aus den Lautsprechern. »Kai, das ist für dich!«, ruft ein Moderator ins Mikrofon und bringt die Menge zum Lachen. Das Bündnis hat die soziale Frage an diesem Samstag mit der Systemfrage verbunden: Es sind Facetten der Ausbeutung, die sich nicht nur in den Lebensbedingungen der Empfänger*innen sozialer Arbeit, sondern auch in den Arbeitsbedingungen der Sozialarbeitenden selbst widerspiegeln. In wenigen Tagen beginnen die Tarifverhandlungen. Die Demonstrierenden hoffen auf einen echten Inflationsausgleich, aber auch auf langfristige Konzepte gegen Altersarmut und für den Schutz ihrer Gesundheit.

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