Verzückung und Dunkelheit

Christian Spuck ist neuer Intendant des Staatsballetts Berlin. Seine Inszenierung von Flauberts »Madame Bovary« an der Deutschen Oper ist ein Triumph

  • Susanne Gietl
  • Lesedauer: 4 Min.
Ehe unter Beobachtung: Paar und Pulk
Ehe unter Beobachtung: Paar und Pulk

Einen eher seltenen Bühnenstoff wählt Christian Spuck für seinen Einstand als Intendant: Gustave Flauberts Roman »Madame Bovary«. Zuletzt verabschiedete Ballettdirektor Jörg Mannes von der Staatsoper Hannover damit vor elf Jahren die französische Primaballerina Karine Seneca. Für Spuck ist es ein Neuanfang in Berlin, für die Mitglieder des Ensembles nach drei Jahren Interimsintendanz ein Hoffnungsschimmer. Am Freitag feierte »Bovary« in der Deutschen Oper Berlin Premiere.

Rufus Didwiszus’ minimalistisches Bühnenbild, Präriegräser vor dunklen Wänden und einer riesigen Schiebetür, bietet viel Raum für die knapp 80 Tanzenden, die größtenteils die Einwohnerschaft der kleinen Siedlung Yonville und Emma Bovarys Lebensdurst, ihr dunkles Seelenleben symbolisieren. Wie das unersättliche Party-Berlin ist die Landarztgattin immer auf der Suche nach dem nächsten Chic, nach dem nächsten Kick.

Bemerkenswert sind die schnellen Szenen- und Stimmungswechsel. Stücke von Thierry Pécou und György Ligeti verwendet Spuck stellvertretend für Emmas trauriges, rastloses Innenleben; romantische Klavierkonzerte von Camille Saint-Saëns stehen musikalisch für Schein und Schönheit, die Madame Bovary (Weronika Frodyma) blenden und schließlich in den Ruin stürzen.

Ihr Ende markiert den Anfang des Stückes. Elf verschleierte Gestalten in schwarzen Röcken stehen im Prolog wie regungslose Statuen an allen drei Bühnenwänden. In der Mitte des Raumes hat Spuck das ländliche Volk in abgewetzter Kleidung positioniert, ein langer Tisch trennt sie von Emmas Ehemann Charles, am linken Bühnenrand ein lautloses Duett. Die tragenden Streicher von Camilles »She was« setzen ein, der traurige Popsong wird sich motivisch durch das Stück ziehen.

Aus dem Off trägt Marina Frenk Madame Bovarys Sterbeszene in einer gekürzten Fassung vor: »Emmas Kopf war nach der rechten Schulter geneigt. Der Winkel ihres Mundes, der offenstand, sah aus wie ein schwarzes Loch im unteren Teil des Gesichts. Die beiden Daumen waren nach innen zur Handfläche gekrümmt.« Die schwarzen Gestalten tun es ihr nach. Die Bürgerinnen und Bürger heben und senken ihre Köpfe und Körper. Fast alle Tanzenden treten schleichend und gaffend ab.

Frenks Stimme fährt bis zum Todeshauch fort: »›Hören Sie den Hund heulen?‹, fragte der Apotheker. Es heißt, sie wittern die Toten.« Zu den dissonanten Klängen von György Ligeti bilden die verbleibenden Tänzerinnen und Tänzer Duette. Zuletzt wird nur noch Shaked Heller übrig sein. Seine Tattoos am Hals stechen wie blaue Todesadern hervor, während er schlängelnd zum Bühnenrand kriecht und mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden verharrt. Schnell wird ein Lichterbogen auf die Bühne gerollt, und Emma und Charles treten als Brautpaar in der ersten Szene auf.

Romanpassagen in der Übersetzung von Elisabeth Edl und schwarz-weiße Videoprojektionen geben Einblicke in Emmas Lebenswelt. Bilder ruralen Lebens lösen später Videos von schönem Geschmeide und Luxusläden ab. Über hundert Kostüme fertigte Emma Ryott an. Jede Welt hat ihr eigenes Farbkonzept. Die animalisch zuckenden Schuldeneintreiber treten in Pechschwarz auf, die Bürgerinnen und Bürger von Yonville tragen gedämpfte, natürliche Töne; in prachtvollen Kleidern erstrahlt die Ballgesellschaft, bunt schimmert die künstliche Theaterwelt.

Damit die Tänzerinnen genug Bewegungsfreiheit haben, nutzte Ryott bis zu 15 Meter Stoff für einen Rock. Emmas Kleider sind mit Tüll unterfüttert, auf dem Boden wirken sie schwer – wird sie von einem ihrer Liebhaber in die Luft gehoben, erscheinen sie federleicht. Das mag die schon inflationär gebrauchten Hebeszenen mit beiden Liebhabern (Alexandre Cagnat, David Soares) erklären. Stürmische Küsse, auch im Liegen, inklusive. Spuck, der als Kind schon ein Theater-Abo besaß, lässt nichts im Unklaren.

Emmas minutenlange Sterbeszene im zweiten Akt inszeniert Spuck mit einer riesigen Apothekerflasche Arsen, einem Live-Video auf Emmas vergiftetes Gesicht und Charles als Emmas treu liebendem Ehemann. Dass der Choreograf am Ende wieder die Anfangsszene nachbaut, dürfte die letzten Verständnisschwierigkeiten aus dem Weg räumen. Spucks Erzählballett wird mit frenetischem Applaus belohnt.

So aktuell dieses Stück über Schein und Sein in Zeiten der sozialen Medien ist, so verstaubt können Repertoires von Balletten sein. Im Podcast des Berliner Staatsballetts »Ballet for Future«, der nach einem Rassismus-Weckruf im eigenen Haus initiiert wurde, diskutierte man über die Aufführung von Werken mit rassistischen oder sexistischen Weltbildern wie »La Bayadère«.

Spuck möchte dem klassischen Ballett aus moderner Sicht begegnen, ein guter Ruf bezüglich Diversity-Kompetenzen eilt ihm voraus. Die Mitglieder des zu einem Viertel neu zusammengesetzten Ensembles kommen aus 28 Ländern. Damit sich das neue Ensemble zusammenfinden kann, plant Spuck statt 100 nur 80 Vorstellungen. Der Auftakt hat gezeigt, dass die Zahnrädchen schon jetzt gut zueinandergefunden haben.

Nächste Vorstellungen: 27., 30. und 31.10.

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