Kolonialgeschichte in Lehrplänen von Berlin: Global gedacht

Decolonize Berlin will die Lehrpläne für die Oberstufen umkrempeln

Eine Klassenarbeit über den bewaffneten Widerstandskampf im ostafrikanischen Maji-Maji-Krieg, eine Powerpoint-Präsentation über die Petitionsbewegung der Duala in Kamerun? Wer an diesen Lernzielen für die elfte oder zwölfte Klasse scheitern würde, war wohl auf einer durchschnittlichen deutschen Schule. Denn Lehrpläne für die sozialwissenschaftlichen Fächer wie Geschichte oder Geografie gehen selten auf Geschichten und Perspektiven ein, die nicht im weißen europäischen Wissenskanon vorkommen. Zusammenhänge, Entwicklungen, Unterdrückung – sie werden im Klassenzimmer selten global gedacht.

Der Verein Decolonize Berlin will das ändern. Zurzeit entstehen neue Rahmenlehrpläne für die Berliner Oberstufen in den Fächern Geschichte, Philosophie, Geografie und Politikwissenschaft, die ab 2025 für etwa zehn Jahre die schulische Bildung prägen werden. Auf über 20 Seiten kommentieren 70 Expert*innen aus der Zivilgesellschaft die Gutachten, die als Grundlage für die neuen Rahmenlehrpläne vom Bildungssenat in Auftrag gegeben wurden. Das Ziel der Stellungnahme: globales Lernen im Schulalltag verankern.

Was das bedeutet, erklärt Alexander Schudy von dem Berliner Entwicklungspolitischen Ratschlag (BER). Er hat die Stellungnahme zusammen mit Decolonize Berlin als Träger der Koordinierungsstelle für einen gesamtstädtischen Aufarbeitungsprozess zu Berlins kolonialer Vergangenheit organisiert und durchgeführt. »Globales Lernen zeichnet sich überwiegend dadurch aus, dass verschiedene Perspektiven auf einen Gegenstand betrachtet werden«, sagt Schudy zu »nd«. Das sei im aktuellen Schulkanon bisher nicht vorgesehen. »Insbesondere die Perspektiven von Betroffenen von Konflikten fehlen.«

Die Stellungnahme gibt konkrete Verbesserungsvorschläge für die Lerninhalte der unterschiedlichen Fächer. Für das Fach Geschichte etwa sehen die Initiativen schon im Bereich der Antike die Notwendigkeit, »auch die engen Beziehungen Europas zu außereuropäischen Regionen wie Afrika und Asien aufzuzeigen«. Die Forderung nach vielseitigen Perspektiven setzt sich fort. Wenn eine Klasse das 19. Jahrhundert behandelt, sollte sie etwas über Lateinamerika und die Unabhängigkeit von der Kolonialherrschaft lernen. Im Themenblock Kolonialismus müssten die verschiedenen Unterdrückungssysteme der europäischen Kolonialmächte bis zu heutigen neokolonialen Ausbeutungsverhältnissen betrachtet werden.

Im Fach Philosophie fordern die Expert*innen eine diverse Lektüre von Denker*innen mit unterschiedlichen Hintergründen. »Gerade bei der Thematisierung der Geschichte von Philosophien wird oft eine eurozentrische Perspektive eingenommen«, heißt es. Und im Fach Geografie werde noch viel zu häufig die Unterteilung in »entwickelte« und »unterentwickelte« Länder vorgenommen, ohne die strukturellen Gründe zu beleuchten und den Begriff der Entwicklung an sich zu hinterfragen.

Ganz schön viel Inhalt für drei Schuljahre. Tahir Della von Decolonize scherzt, er hätte nichts dagegen, die Inhalte über Preußen oder die napoleonischen Kriege zu kürzen, wenn dafür die deutschen Kolonialverbrechen verpflichtender Teil des Unterrichts wären. »Das ist nach wie vor ein Thema, das in den Schulmaterialien nicht vorkommt.« Er betont, wie notwendig eine globale und machtkritische Perspektive sei, um über aktuelle Themen wie Migration und Klima zu reden. Schwarze und migrantische Kinder sollten außerdem von Widerständen gegen Versklavung und Kolonialismus erfahren. »Damit wir die Betroffenen nicht ausschließlich als Opfer imaginieren.«

Schudy erwähnt noch einen dritten Vorteil des globalen Lernens. »Wenn man mehr Perspektiven in den Schulalltag reinholt, holt man auch Verständnis rein, anstatt zu polarisieren.« Das könnte menschenfeindlichen Ideologien vorbeugen.

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