Gazastreifen: Wenn Zahlen Politik machen

In Kriegen sind verlässliche Informationen Mangelware. Zweifel sind etwa bei Aussagen des »palästinensischen Gesundheitsministeriums« angebracht

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 4 Min.

Dr. Aschraf Al-Kudra ist ein begehrter Mann. Wenn ein Konflikt, ein Krieg zwischen Israel und der Hamas, dem Islamischen Dschihad ausbricht, dann hat er für Medienvertreter in aller Welt alle Zahlen parat, die Journalisten haben wollen. Nach eigener Aussage gelernter Arzt, erklärt der Sprecher des »palästinensischen Gesundheitsministeriums«, wie viele Menschen ums Leben gekommen sind, wie viele noch unter den Trümmern begraben sind, wie viele davon Frauen, Kinder und Senioren sind. Nachdem vor eineinhalb Wochen das Al-Ahli-Krankenhaus schwer beschädigt worden war, wusste Al-Kudra schon nach knapp einer Stunde, wie viele Menschen getötet worden waren.

Ein Meisterstück der Statistik und Pressearbeit? Oder einfach nur zu gut erfunden, um wahr zu sein? Berichterstattung braucht Zahlen und Fakten. In Kriegen und Konflikten, wenn Grenzen geschlossen, Orte unzugänglich sind, ist für Journalisten beides eine begehrte Mangelware. Und für die Konfliktparteien sind Zahlen und Informationen die Joker, die Waffen, die den Ausgang genauso drehen können wie die Entwicklungen auf dem Schlachtfeld.

So versuchen Israels Militär und Regierung mit Mitschnitten von Telefonaten und Videos die Sicht der Weltöffentlichkeit in ihre Richtung zu lenken. Und die Hamas liefert, auf dem Umweg über ein unverfänglich erscheinendes »Gesundheitsministerium«, die vermeintlichen Informationen, die am Ende den Ausschlag für Massenproteste in anderen Ländern, für die Forderung in der Weltpolitik nach Waffenruhen und Zugeständnissen geben sollen.

Und damit zum »Gesundheitsministerium«. Als 2014 ein Krieg zwischen Hamas und Israel ausbrach, präsentierte Al-Kudra zum ersten Mal Zahlen am laufenden Band, und damals konnten noch Journalisten in großer Zahl in den Gazastreifen einreisen. Wer wollte, dem zeigte sich Al-Kudra in seinem winzigen Büro im Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt vor einem Telefon. Er müsse halt nahe am Geschehen dran sein, um den Überblick zu haben, begründete er das kleine Büro. Zweifel an seinen Zahlen gab es schon damals. Mittlerweile sind sie noch größer geworden.

Aber erst nachdem US-Präsident Joe Biden die Angaben öffentlich angezweifelt hatte, wurden sie zum Thema. Bis vor wenigen Tagen fehlte in den Berichten vieler Nachrichtenagenturen, die von Redaktionen oft als Grundlage für die Berichterstattung herangezogen werden, jegliche Einordnung der Zahlen. Recht häufig geraten auch Gesundheitsministerium (Hamas) und Gesundheitsministerium (offizielle Regierung in Ramallah) durcheinander. Denn die Strukturen sind vorsichtig gesagt: konfus. Die offizielle Regierung und die Hamas haben jeweils eigene Ministerien gegründet, die denselben Namen tragen und auch noch Webseiten mit ähnlicher Adresse betreiben. Teilweise beansprucht das Hamas-Ministerium auch Handlungen des offiziellen Ministeriums für sich selbst. Doch zu Normalzeiten spielt das Hamas-Ministerium nahezu gar keine Rolle; es ist noch nicht einmal klar, wo diese Behörde zurzeit überhaupt ihren Sitz hat. Wenn gerade kein Krieg herrscht, befindet sich dieses Ministerium in einem Dornröschenschlaf: Es gibt keinerlei Hinweise auf irgendwelche Aktivitäten, die ein solches Ministerium erforderlich machen würden.

Es gäbe auch nicht wirklich etwas zu tun. Denn trotz der Feindschaft zwischen der Hamas und der offiziellen Regierung ist letztere weiterhin für das Gesundheitssystem verantwortlich und arbeitet dabei mit dem Roten Halbmond, einer Schwesterorganisation des Roten Kreuzes, und dem Uno-Hilfswerk für die palästinensischen Flüchtlinge (UNWRA) zusammen. Der Grund: Die internationale Gemeinschaft und vor allem Israel fordern, dass keinerlei Geld an die Hamas fließen soll.

Wie viele Menschen im Gazastreifen sind denn nun tatsächlich bei israelischen Angriffen getötet worden? Niemand könne das auch nur einigermaßen zuverlässig sagen, erklären UNWRA, Roter Halbmond und andere Hilfsorganisationen übereinstimmend.

Israels Pressearbeiter versuchen derweil, mit Transparenz und offenkundig unbestreitbaren Belegen zu punkten: Mitschnitte von Telefonaten zwischen Hamas-Vertretern, Videos von fehlgeleiteten Raketen werden veröffentlicht. Kann man dem glauben? Journalisten können damit zumindest arbeiten.

Denn Bild- und Tonmaterial kann man analysieren, verorten, mit anderen Informationen vergleichen. Und man kann darauf hinweisen, wenn eine Überprüfung nicht möglich ist. Nach der Explosion am Al-Ahli-Krankenhaus gaben sich Israel und die Hamas gegenseitig die Schuld. Danach stellten nicht nur westliche Geheimdienste, sondern auch Medien und Initiativen an Universitäten eigene Analysen an, von denen die meisten zu dem Ergebnis kamen, dass die wahrscheinlichste Version eine fehlgeleitete palästinensische Rakete war.

Sicher ist jedoch: Seit dem 7. Oktober sind sehr viele Menschen getötet worden, in Israel gar so viele, wie seit dem Holocaust nicht mehr.

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