Südkorea: Fischkuchen unerwünscht

In Südkorea sollen Straßenstände verschwinden, weil sie nicht ins Selbstbild einer hoch entwickelten Volkswirtschaft passen

  • Felix Lill
  • Lesedauer: 7 Min.
Südkoreas Präsident Yoon Suk-Yeol und ein Aal (links) in der Hafenstadt Busan
Südkoreas Präsident Yoon Suk-Yeol und ein Aal (links) in der Hafenstadt Busan

Wenn Lee Kyung-min wieder eines dieser Fotos sieht, kann er nicht anders, als ein bisschen wütend zu werden. »Politiker lieben es ja, sich an unseren Ständen ablichten zu lassen«, sagt der 49-Jährige und schaut erst böse, muss dann aber irgendwie doch lachen. »Ach, es ist so absurd!«, erklärt er: »Wenn mal wieder Wahlkampf ist, können wir uns vor prominentem Besuch kaum retten. Aber dann?« Dann würden Lee und seine Mitstreiter von denselben Politikern doch wieder eher bedroht als beschützt.

Lee Kyung-min, ein höflicher Mann mit schmaler Brille, ist einer von vielen in seinem Land: Tagsüber steht er an einer stark befahrenen Straße in Seoul und führt einen Laden, der sich zusammenklappen und abtransportieren lässt, aber alles Mögliche verkauft, von Henna-Tattoos über Haarspangen bis zu Bürsten. Andere Kleingeschäfte führen Powerbanks, Sonnenbrillen oder Schals. Besonders viele aber bieten schnelle, altmodische Speisen an wie das scharfe Reisgericht Tteokbokki, koreanische Wurst oder gegrilltes Oktopusschaschlik. Landesweit gibt es rund 300.000 solcher Verkaufsstände.

Im ostasiatischen Land sind sie nicht nur deshalb eine Institution, weil man bei ihnen trotz anderswo steigender Preise für rund zwei Euro satt werden und billig einkaufen kann. Die Kleingeschäfte sind längst in jedem Touristenführer erwähnt. Gerade in Seoul, zwischen Bauten aus Glas und Stahl, unter Videowänden, die die neuen Smartphones bewerben, erscheinen sie Besuchenden wie ein sympathischer Anachronismus. Wobei die Stände eben nicht nur Touristinnen sättigen, sondern auch diejenigen, denen in Südkoreas ungleicher Gesellschaft das Geld für Teureres fehlt.

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Aber gerade deswegen regt es Lee Kyung-min auf, wenn sich Politiker einem Verkaufsstand nähern. »Vor eineinhalb Jahren kam Yoon Suk-yeol zu einem Essensstand«, erinnert er sich und holt aus. Der Rechtskonservative Yoon, der damals im Wahlkampf steckte und seit Mai 2022 nun das Land regiert, konnte auf dieses Motiv offenbar nicht verzichten: Genüsslich biss er in einen Spieß mit würzigem Fischkuchen, den er gerade am Straßenrand gekauft hatte. »Yoon sah zufrieden aus, geradezu glücklich«, lacht Lee Kyung-min und zeigt ein Bild auf seinem Handy.

Aber Lee, der neben seinem Tagesjob auch stellvertretender Vorsitzender der nationalen Straßenverkäufervereinigung ist, erkennt in dieser Aufnahme, die Yoons Wahlkampf verbreitet hatte, trotzdem eine Lüge. »Ich glaub schon, dass ihm das Essen geschmeckt hat«, sagt Lee. »Aber Yoon hat damit auch eine Botschaft ins ganze Land gesendet: Dass er ein Mann des Volkes sei, der sich für die Probleme der Menschen interessiert. Und dass er die Verkaufsstände mit ihren günstigen Waren unterstützt. Er hat ja bei einem von uns konsumiert!«

Doch zusehends muss sich das ostasiatische Land fragen: Wie lange werden die Verkaufsstände ihre Funktion als Billiganbieter noch ausfüllen? Denn Lee Kyung-min, der sein Geschäft seit nun 15 Jahren betreibt, betont einerseits: »Im Archiv unserer Vereinigung haben wir ähnliche Aufnahmen von fast jedem Politiker, der Rang und Namen hat. Sie lieben die Fotogenität unserer simplen Geschäftsstände.« Andererseits ist sich Lee sicher: »In Wahrheit wollen sie, dass wir verschwinden.«

Denn unter Politikerinnen und Politikern sind die Kleingeschäfte kaum so beliebt, wie es diverse Wahlkampffotos glauben machen. Eher im Gegenteil: Diversen Regierungen sind sie ein Dorn im Auge, weil die Stände zwar populär sind, aber auch irregulär. So versucht der Staat schon länger, die Straßenverkäufer aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen. Und aktuell ist die Lage besonders bedrohlich.

In der Hauptstadt Seoul, wo sich die meisten Verkaufsstände befinden, hat die regierende rechtskonservative People’s Power Party (PPP) ein Gesetz auf den Weg gebracht, das den Verkäufern den Rest geben soll. Wird eine Verkäuferin dreimal von Kontrolleuren erwischt, könnte sie womöglich sogar ins Gefängnis kommen. Der PPP-Abgeordnete Moon Sung-ho, der das Gesetz erarbeitet hat, erklärt das Vorhaben so: »Ziel ist, die Schattenwirtschaft zu beenden, indem die Behörden das Problem managen, um den Menschen etwa sauberes und sicheres Essen zu garantieren.«

Die Betroffenen sehen das anders. »Die wollen uns einfach beseitigen!«, sagt Lee Kyung-min, dessen Vereinigung immerhin rund 10.000 Mitglieder zählt. Er betont: »Das Argument, der Staat müsse die Konsumenten bei Essensständen vor unreinen Waren schützen, ist einfach nur Unsinn. Wir achten darauf, dass wir nur frische Zutaten verwenden. Wir haben ja auch gar keine Möglichkeit der Lagerung. Alles kann daher nur frisch sein.«

Die Vereinigung sei stolz darauf, dass es bei ihren Mitgliedern noch nie einen Fall von Nahrungsmittelvergiftung gegeben habe. Wobei das Schutzargument ohnehin vorgeschoben sei. »Politiker haben uns schon als Insekten bezeichnet.« Vor allem die PPP, der auch Präsident Yoon angehört, mache immer wieder gegen die Straßenverkäufer Stimmung. »Dieses Jahr wurde unser Vorsitzender verhaftet, weil er sich angeblich der Staatsgewalt widersetzt habe.« Die Vereinigung sieht es so: »Wir haben dagegen diskutiert, dass wir verdrängt werden. Das ist unser Recht«, so Lee.

Auch Lee Kyung-min ist schon bei Protesten verhaftet worden. Denn protestiert wird in letzter Zeit häufiger. Im Juni legten die Straßenverkäuferinnen mit 4000 Demonstrierenden Teile der Innenstadt Seouls lahm. Ziel war es, das in der Hauptstadt geplante Gesetz zu stoppen, das seither tatsächlich nicht beschlossen wurde. Im August protestierte die Verkäufervereinigung noch einmal vor dem Seouler Stadtparlament. Die Interessenvertretung ist derzeit so laut, dass sie sich kaum ignorieren lässt. »Wir haben ja keine Wahl«, sagt Lee.

Straßenstände: Südkorea: Fischkuchen unerwünscht

Höchst angespannt ist das Klima schon lange. Und es liegt wohl auch nicht nur daran, dass die Straßenverkäufer in der Regel keine Steuern zahlen. »Die allermeisten von uns machen täglich Einnahmen in Höhe des Mindestlohns, also ungefähr 10.000 Won pro Stunde (rund sieben Euro).« Eine hohe Steuerlast fiele ohnehin nicht an, viele wären gar von der Steuer befreit. »Glauben Sie mir«, sagt Lee Kyung-min: »Niemand in Südkorea ist freiwillig Straßenverkäufer. Vor allem viele ältere Menschen, deren Rente sehr schmal ist, verkaufen auf der Straße. Der Grund ist Armut.«

Und Armut ist gerade in Südkorea ein ziemlich unangenehmes Thema. Nach dem Koreakrieg (1950–1953) gehörte die Halbinsel noch zu den ärmsten Flecken der Welt. Kurz darauf aber begann im kapitalistisch orientierten Süden ein beispielloser Boom. Binnen dreier Jahrzehnte gelang der Übergang von einer Agrar- und Textilnation zu einem Industriestaat mit Technologieführerschaft. Nur erinnert die Existenz der Straßenverkäufer auch daran, dass längst nicht alle vom südkoreanischen Wirtschaftswunder profitiert haben.

Die Bekämpfung von Straßenverkäufern hat immer wieder hässliche Ausmaße angenommen. Vor wenigen Jahren wurden teilweise noch Schlägertrupps engagiert, um Stände zu vertreiben. Auch wegen solcher Vorfälle sehen kritische Stimmen postfaschistische Elemente im Land. »In Südkoreas eher rudimentärem Sozialstaat werden die sozial Schwachen nicht nur kaum unterstützt«, sagt Kim Nu-ry, Professor für Literatur an der Chung-Ang Universität in Seoul und ein anerkannter Intellektueller Südkoreas. »Oft wird ihnen das Leben noch zusätzlich schwergemacht.«

Immer wieder ist zu beobachten, wie diejenigen, die in Südkoreas hyperkapitalistischer und konkurrenzgetriebener Gesellschaft den Anschluss verlieren, auch auf anderer Ebene ausgestoßen werden. Selbst im privaten Kreis meiden sich alte Freunde nicht selten, wenn nur einer von ihnen beruflich erfolgreich ist. Der soziale Druck, bei einem möglichst bekannten Arbeitgeber möglichst viel Geld zu verdienen, ist groß. Das Berufsbild des Straßenverkäufers entspricht dabei nicht gerade dem Ideal. Und wo Erfolg als Ergebnis eigener Leistung gilt, gilt Scheitern schnell als selbstverschuldet.

So ist eine Abneigung gegenüber den Straßenverkäufern längst nicht nur in der rechtskonservativen PPP zu finden, wie sich gerade wieder zeigt. Durch eine erfolgreiche Unterschriftenaktion für den Schutz ihrer Tätigkeit hat die Vereinigung der Straßenverkäufer es geschafft, dass ihre Situation auch im nationalen Parlament diskutiert werden muss. »Aber auch die etwas liberalere Demokratische Partei unterstützt uns überhaupt nicht«, sagt Lee Kyung-min.

Der Verkäufer fragt sich: »Wenn die geplante neue Regulierung in Seoul beschlossen wird: Was sollen wir dann machen? Auf der Straße sitzen und betteln? Wäre das etwa besser?« Wobei mit einem Verschwinden dieser Stände nicht nur Hunderttausende ihre Einkommensquelle verlören und Südkorea außerdem um eine für viele Menschen wichtige Quelle billiger Produkte gebracht wäre. In Wahlkampfzeiten hätten auch Politiker diverser Parteien fortan ein Motiv weniger, mit dem sie sich als volksnah inszenieren könnten.

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