Magistrale der Moderne

Irma Leinauer lädt zu einer Entdeckungskur in die Berliner Karl-Marx-Allee ein

  • Marion Dammaschke
  • Lesedauer: 3 Min.
Das von Josef Kaiser entworfene Kino »International« auf der Karl-Marx-Allee in Berlin
Das von Josef Kaiser entworfene Kino »International« auf der Karl-Marx-Allee in Berlin

Die Karl-Marx-Allee ist eine der bekanntesten Magistralen Berlins, die von Osten ins Zentrum der Metropole führt. Deren Wiederaufbau begann nach dem Zweiten Weltkrieg zu Beginn der 1950er Jahre. Vom Frankfurter Tor bis zum Strausberger Platz entstanden im Stil der sowjetischen Monumentalarchitektur Wohn- und Kulturbauten, deren Reiz nach 1990 neu entdeckt und oft beschrieben wurde. Der sich daran anschließende Abschnitt, der bis zum Alexanderplatz führt und für den am 6. Oktober 1959 offiziell der Grundstein gelegt wurde, fand indes bislang in der DDR-Architektur- und Städtebaugeschichtsschreibung nur wenig Beachtung.

Diesem zweiten Bauabschnitt und dessen Bau- und Planungsgeschichte ist eine kürzlich im Berliner Lukas-Verlag Berlin erschienene umfangreiche Abhandlung von Irma Leinauer gewidmet. Die Stadt- und Raumplanerin studierte an der TU Berlin und wurde dort mit ihrer Arbeit über das an der zwischen Strausberger Platz und Alexanderplatz gelegene moderne Wohngebiet promoviert. Darauf basiert die 600 Seiten starke und mit mehreren hundert Abbildungen reich ausgestattete fundamentale Ausarbeitung über das bedeutende Bauensemble der modernen Nachkriegsarchitektur im Zentrum der DDR-Hauptstadt.

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In sechs Kapiteln werden die einzelnen Etappen der Planungs- und Realisierungsgeschichte kenntnisreich dargestellt. Städtebaulich kamen jenem Straßenteil wichtige Funktionen zu. Zum einen sollte er als Bindeglied zwischen den Hochhäusern am Strausberger Platz und über den Alexanderplatz hinaus zur historischen Mitte Berlins führen. Zum anderen sollte durch die beiderseitige Bebauung mit Wohnquartieren, die erstmalig überwiegend in industrieller Fertigung entstanden, dem drängenden Bedarf an Wohnraum entsprochen werden. Irma Leinauer bilanziert: »Bezeichnend für eine sozialistische Planung war, alle Lebensbereiche zu planen und sie nicht einem fremden Markt mit zersplitterten Entscheidungskompetenzen zu überlassen. Wohnen zählte zu den gesellschaftlich wichtigsten Funktionen, und an der Karl-Marx-Allee wurde der Versuch gemacht, sowohl eine hauptstädtische Magistrale zu gestalten als auch einen bedeutenden Wohnstandort samt Infrastruktur aufzubauen.«

Die Funktionalität und Repräsentanz der neu geschaffenen Gebäude planten Kollektive von Fachleuten, wobei Josef Kaiser mit der Errichtung von eleganten Solitären, unter anderem das Kino »International«, und von Wohnhochhäusern in Querwandplattenbauweise (QP) diesen Architekturraum als sein Werk realisieren konnte. Kaisers Arbeiten, so die Autorin weiter, komme eine ähnlich große Bedeutung für Berlin zu, wie die Entwürfe und Bauten von Richard Paulick und Hermann Henselmann. Deren Biografien und die weiteren an der Gestaltung des zweiten Bauabschnitts beteiligten Architekten sind in einem Anhang nachzulesen. Zudem finden sich dort eine Übersicht über Wohnungsbautypen und ein beeindruckendes Material mit Zahlen zur Planung und zum Bestand des Gebiets.

Wer von nun an weiterhin seriös über die Nachkriegsmoderne arbeiten und schreiben will, wird Irma Leinauers Darstellung als ein umfassendes und fachlich überzeugendes Grundlagenwerk schätzen. Dies auch, weil souverän und frei von ideologischen Denkschablonen historische Zusammenhänge verdeutlicht werden. Vorgelegt wird eine wissenschaftliche Wegmarke hin zum von der Unesco zu vergebenden Weltkulturerbe-Titel für Berlins Nachkriegsmoderne.

Irma Leinauer: Magistrale der Moderne. Das Wohngebiet an der Karl-Marx-Allee im Zentrum von Berlin. Planungs- und Baugeschichte. Reihe »Gegenstand und Raum«, hg. v. Thomas Flierl. Lukas-Verlag, 600 S., 500 Abb., geb., 60 €.

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