Gaza: Verloren zwischen den Fronten

Fatah, Technokraten-Regierung, arabische Schirmherrschaft: Planspiele zur Zukunft von Gaza

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 9 Min.

Der 7. Oktober ist zu dem Tag geworden, an dem vermeintliche Gewissheiten zerstört wurden. Rund 1400 Menschen haben Terroristen der Hamas in Israel ermordet. Danach begann ein Krieg zwischen dem israelischen Militär, der Hamas und dem Islamischen Dschihad, der mitten in einem der am dichtesten bevölkerten Gebiete der Welt ausgefochten wird. Auf beiden Seiten schlagen Raketen ein, Menschen suchen Schutz und Wasser, Nahrung und Medizin – nichts davon ist im Gazastreifen mehr ausreichend zu finden. Gleichzeitig bangt man in Israel um die Existenz, um jenen Ort, an den man sicher zu sein glaubte, vor Pogromen, vor Massenvernichtung, vor Antisemitismus. Seit dem Massaker am 7. Oktober erscheint vielen nichts davon mehr sicher zu sein. Die Mörder kamen beim Tanzen, ins Wohnzimmer, sogar in Polizeistationen.

Der Krieg dauert nunmehr schon fast einen Monat. Welche Ziele Israels und der Hamas sind bisher erkennbar, welche Perspektiven für die palästinensischen Gebiete?

Die Logik hinter der Isolierung

Nachdem die Hamas 2007 im Gazastreifen die Macht übernommen hatte, setzten Israels Regierung und die Partner im Westen auf eine Isolierung. Die Grenzen zum Gazastreifen, die damals noch nicht so stark gesichert waren wie heute, wurden so gut es ging dicht gemacht. Die simple Logik dahinter: Wenn das Gebiet von freiem Personen- und Warenverkehr abgeschnitten wird, merken die Leute schon, was sie an der eigentlichen palästinensischen Führung haben, der damals wie heute Präsident Mahmud Abbas vorsteht. Nachdem dann erstmals Raketen auf Israel abgeschossen wurden, anfangs wenige, dann immer mehr, wurde die Blockade für Israel lebensnotwendig: Nichts sollte mehr in den Gazastreifen eingeführt werden, was zum Waffenbau eingesetzt werden könnte.

Gleichzeitig bekam die eigentlich nur aus außenpolitischen Gründen aufrechterhaltene Flugverbindung von Tel Aviv nach Kairo einen echten Sinn: In den Fliegern pendelten Geheimdienstler und Diplomaten hin und her, ständig bemüht, Eskalationen zwischen Israel und der Hamas zu vermeiden oder zu beenden. Irgendwann konnte man fast die Uhr danach stellen, wann nach dem Beginn einer Eskalation eine Waffenruhe verkündet werden würde. Dann kam, etwa ab 2016, also zwei Jahre nach dem letzten großen Gazakrieg, der Punkt, an dem israelische und westliche Politiker, Militärvertreter, Geheimdienstler und Journalisten tatsächlich zu glauben begannen, dass die Hamas von ihrer ursprünglichen Ideologie abgerückt, moderater geworden ist. Dass man mit ihr reden kann. Dass die moderne Technik am Grenzzaun das Übrige tun werde.

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Selbstverständlich wusste man in Israel, dass die Hamas weiter an einem Tunnelnetz unter Gaza-Stadt baute. Immer wieder warnten Geheimdienstler und Militärs, aber was sollte man machen? Ein groß angelegter Militäreinsatz, wahrscheinlich Bodentruppen, wären notwendig gewesen, inmitten eines der am dichtesten bevölkerten Gebiete der Welt. Bis zum 7. Oktober 2023 war die unerschütterliche Gewissheit im Nahost-Konflikt, dass die einzige Option darin besteht, auf die Vermittlungskünste der Führungen in Ägypten und Katar und die Künstliche Intelligenz am Grenzzaun zu vertrauen.

Nun ist das keine Option mehr. Die KI am Grenzzaun wurde von Scharfschützen zerstört. Katar und Ägypten sind düpiert. Das neue israelische Dogma ist, dass die Hamas zerstört werden muss, dass sich der 7. Oktober mit ihr jederzeit wiederholen könnte. Und dass der Militäreinsatz, den man unbedingt vermeiden wollte, nun alternativlos geworden ist.

Doch wirklich zuversichtlich ist momentan niemand, der sich zu dem Thema äußert. Denn völlig offen ist, was danach mit dem Gazastreifen und seiner Bevölkerung passieren soll. Man werde die Hamas zerstören und wolle danach nichts mehr mit dem Gazastreifen zu tun haben, sagte Israels Verteidigungsminister Joav Galant vor einigen Wochen. In der extrem aufgeheizten Atmosphäre im Land war es genau das, was viele hören wollten.

Mohammad Dahlan schlug eine Technokraten-Regierung vor

Aber die Hamas ist eben nicht nur eine Terrororganisation, sondern regiert auch den Gazastreifen. Nahezu das gesamte Personal der Verwaltung und die gesamte Führungsebene dürfte aus ihren Reihen stammen. Man könne die Hamas nicht vollständig zerstören, sagte Mohammad Dahlan, in den 1990er Jahren Sicherheitschef in Gaza, vor einigen Tagen. Er schlug für die Zeit nach dem Krieg eine Regierung aus Technokraten vor.

In Hintergrundgesprächen mit ausländischen Diplomaten und israelischen Politikern wird aber schnell deutlich: Eine Führung ist rasch gebildet; irgendwer findet sich immer. Doch die große Kunst besteht darin, eine von der Gesellschaft akzeptierte Führung zu finden und Kräfte zu schaffen, die die öffentliche Ordnung aufrecht erhalten. In den vergangenen Jahren waren dies im Gazastreifen eine de-facto-Polizei der Hamas sowie die Essedin al Kassam-Brigaden, also der bewaffnete Flügel der Hamas, dessen Angehörige maßgeblich das Massaker am 7. Oktober verübten. Von einer rechtsstaatlichen Ordnung konnte im Gazastreifen seit 2007 keine Rede sein, auch wenn die Hamas-Führung in Gaza nach außen hin versuchte, ihren Strukturen einen legitimen Anstrich zu geben.

Wie der Gazastreifen künftig regiert und verwaltet werden soll, dafür gibt es verschiedene Vorschläge. Einer davon ist, dass die arabischen Staaten eine Art »Schirmherrschaft« übernehmen. Dabei würde eine Regierung aus Vertretern der größten Organisationen und mächtiger Familien gebildet. Die arabische Welt würde dabei anleiten, als Geldgeber fungieren und Truppen zu Verfügung stellen, die die öffentliche Ordnung aufrechterhalten und für die Sicherheit Israels garantieren sollen. In Umlauf gebracht wurde dieses Konzept vom Umfeld Galants, was bedeutet, dass dies die präferierte Option des israelischen Verteidigungsministers sein dürfte.

Gleichzeitig hat dieser Vorschlag Schwächen. Die wohl Wichtigste ist, dass keiner der arabischen Staaten Interesse daran signalisiert hat, in Gaza eine Rolle spielen zu wollen. Auch beim Geld ist man sehr zurückhaltend, wie die Vergangenheit zeigte. Das Nachbarland Ägypten will auch deshalb nichts mit Gaza zu tun haben, weil man dann die Grenze öffnen und einen Ansturm von Auswanderungswilligen befürchten müsste.

Zweitstaatenlösung?

Doch der größte Stolperstein ist, dass man nicht selbst als Besatzungsmacht wahrgenommen werden möchte. Alle Regierungen der Region erklärten auf Anfrage, dass die Verwaltung der palästinensischen Gebiete allein Sache der Palästinenser sei – eine Aussage, die nicht zufällig einhellig ausfällt. Man nutzt die Gelegenheit, um Israels Regierung einen Ball zuzuschieben, den man keinesfalls gerade jetzt in der eigenen Hälfte haben möchte: jenen mit der Aufschrift »Zweistaatenlösung jetzt!«.

Die offizielle palästinensische Regierung in Ramallah erklärt derzeit gern, dass man natürlich bereit stehe, um in Gaza auszuhelfen. Aber dafür brauche man eben etwas Handfestes. Einen eigenen palästinensischen Staat, in den Grenzen von 1967. Die palästinensische Autonomiebehörde könne sonst genauso gut in einer F16 oder einem Panzer nach Gaza reisen, sagte Regierungschef Mohammad Schtajjeh in der vergangenen Woche.

Auch in vielen Hauptstädten Europas und in Washington findet man das so lange eine gute Idee, bis man sich an die vielen ergebnislosen Verhandlungsrunden und gescheiterten Abkommen der vergangenen 30 Jahre erinnert. Einfacher ist es nicht geworden. Präsident Abbas, Schtajjeh und alle anderen Funktionäre in ihrem Umfeld brauchen weder israelische Panzer noch amerikanische F16-Jets, um sich unbeliebt zu machen. Sie können gar nicht unbeliebter sein.

Warum die Hamas 2006 die Wahlen gewonnen hat

Dass die Hamas 2006 die palästinensischen Parlamentswahlen gewonnen hat und 2007 die Macht in Gaza übernehmen konnte, lag daran, dass die Bevölkerung die Führungsriege der Fatah, die die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) dominiert, und die Korruption, die sie umgibt, satt hatte. Jetzt – 14 Jahre nach Ablauf von Abbas’ verfassungsgemäßer Amtszeit, 13 Jahre nach dem Ende der Legislaturperiode des Parlaments und nach 42 Wahlterminen, an denen dann doch keine Wahlen stattfanden – werden Abbas und seine Leute nur noch als Statthalter Israels, des Westens und der Europäischen Union gesehen. Das ist eine stark vereinfachte Sicht auf ein komplexes Miteinander, das die Spielräume nun sehr stark begrenzt.

Israel kann die Kontrolle in Gaza nicht selbst übernehmen, die arabische Welt will es nicht. Die palästinensische Autonomieverwaltung verlangt, dass Israel und die USA einen Staat Palästina anerkennen. Dies würde zu weiteren Herausforderungen führen: Die palästinensische Regierung bräuchte zunächst eine Spitze, die in beiden Landesteilen mehrheitsfähig ist. Dann müsste man einen Weg finden, möglichst schnell in Sachen Zweistaatenlösung weiterzukommen.

Marwan Barghouti ist in der palästinensischen Öffentlichkeit beliebt

Beim Führungspersonal sind die Optionen begrenzt: Abbas hat im Laufe der Jahre alle in Frage kommenden Kandidaten weg gemobbt. Der eine, der in der palästinensischen Öffentlichkeit sehr beliebt ist, sitzt in Israel im Gefängnis: Marwan Barghouti, 2004 verurteilt zu fünf Mal lebenslanger Haft wegen seiner Beteiligung an mehreren Anschlägen. Sehr, sehr leise sagen Kontakte aus dem Umfeld der israelischen Regierung, dass die Lage derart festgefahren sei, dass man auch über eine Freilassung nachdenken müsse, solange sich die Hamas das nicht auf die Fahnen schreiben kann. Die Idee, Barghouti den Weg zur palästinensischen Präsidentschaft freizumachen, war in den vergangenen zehn Jahren mehrfach auch von rechten und linken Politikern in Israel angesprochen worden. Schon seit langem wird Barghouti von seinen Unterstützern als palästinensischer Nelson Mandela in Szene gesetzt; 2013 unterzeichneten sogar acht Friedensnobelpreisträger auf der ehemaligen Gefängnisinsel Robben Island eine Erklärung, in der Barghoutis Freilassung gefordert wird.

Doch in jedem Fall wären schnelle Fortschritte in Sachen Zweistaatenlösung nur mit extrem schmerzhaften Zugeständnissen auf beiden Seiten zu erreichen: Die Zahl der israelischen Siedler im besetzten Westjordanland und in Ost-Jerusalem ist heute so groß, dass eine schnelle Räumung von allen Siedlungen logistisch nicht machbar ist. Ein langfristiger Deal würde wahrscheinlich am Misstrauen scheitern. Die israelische Politik ist stark polarisiert und seit Jahren von Instabilität geprägt: Palästinensische und westliche Diplomaten bemängeln schon seit den 1990er Jahren, man könne nie darauf bauen, dass sich israelische Regierungen an die Vereinbarungen ihrer Vorgänger halten. Nach der Ermordung von Jitzhak Rabin hatte Benjamin Netanjahu in seiner Amtszeit als Regierungschef die Umsetzung der Osloer Verträge kräftig gebremst.

Nun hat man aber auch in Israel das Problem der öffentlichen Wahrnehmung: Ob Barghouti-Freilassung oder Zweistaatenlösung – nach dem 7. Oktober könnte jedes Zugeständnis als Einknicken vor dem Terror gesehen werden. Gleichzeitig läuft die Zeit weg. Im Sechstagekrieg 1967 war Israels damalige Regierung in den Gazastreifen hineingegangen, ohne eine Strategie für die Zeit danach zu haben. Die Folge waren jahrelanger politischer Streit und ein Zermürbungskrieg, der bis 1973 dauerte. Schon jetzt versucht Oppositionsführer Benny Gantz, der nun im dreiköpfigen Kriegskabinett dabei ist und dort als Hauptentscheider gilt, die Bevölkerung darauf einzustimmen, dass es Jahre dauern könnte, bis es im Süden Israels wieder sicher ist. Hören will das derzeit kaum jemand.

Angesichts der notleidenden Bevölkerung im Gazastreifen dürfte ein langer Krieg keinesfalls durchsetzbar sein. Schon jetzt werden weltweit die Rufe nach einer Waffenruhe immer lauter, während die Hamas nun erklärt, man werde es wieder tun, noch härter, noch schlimmer. Und was würde passieren, wenn Israel auf die Forderungen der Hamas eingeht, alle palästinensischen Gefangenen freizulassen? Auch in der arabischen Welt findet sich kein Politiker, der dafür plädiert. Offenbar erwartet niemand, dass die Hamas danach ihre Angriffe beenden würde.

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