Wirtschaftslage: In der Schuldenfalle

Neuer Schuldenatlas von Creditreform: Millionen Menschen in Deutschland sind tief in den Miesen

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit vier Jahren sinkt die Zahl der überschuldeten Menschen in Deutschland. Corona, Ukraine-Krise, Zinswende und hohe Inflation scheinen an den Verbrauchern nahezu spurlos vorüberzuziehen. Trotzt die Schuldenquote der gefühlten wie der realen Lage der Wirtschaft in Deutschland? »Die vermeintlich guten Werte trügen leider«, sagt Bernd Bütow, Hauptgeschäftsführer von Creditreform. Der von Bütow am Mittwoch vorgestellte »Schulden-Atlas« zeichnet ein eher düsteres Bild. Schließlich fühle die wissenschaftliche Studie »den Puls der bundesdeutschen Gesellschaft«.

Rund 5,65 Millionen Menschen gelten in Deutschland als überschuldet. Im Vorjahr waren es noch 5,88 Millionen. Die Überschuldungsquote, also der Anteil überschuldeter Personen im Verhältnis zu allen Erwachsenen, beträgt 8,15 Prozent (2022: 8,48 Prozent). »Offiziell ist das ein erneuter Tiefststand«, sagt Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter der Wirtschaftsforschung bei Creditreform. Den Rückgang erklärt Hantzsch mit statistischen Sondereffekten. So habe Creditreform wegen des Datenschutzes die Speicherdauer der Restschuldbefreiungen von Privatpersonen verkürzt. »Ohne diese statistischen Sondereffekte messen wir erstmals seit 2019 einen Überschuldungszuwachs.«

Das sei eine echte Trendumkehr gegenüber den Jahren zuvor, als die Verschuldung trotz der Mehrfachkrisen in Deutschland und der Welt immer weiter gesunken war. 2019 – vor Ausbruch der Corona-Pandemie – hatte die Verschuldungsquote noch bei zehn Prozent gelegen. Mit den Prognosen lag Creditreform damals häufig daneben. Hantzsch führt dies auf verschiedene Faktoren zurück, von den staatlichen Rettungspaketen bis zur Erhöhung des Mindestlohns, was besonders gefährdete Menschen entlastete.

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Bemerkenswert: Ostdeutschland schneidet heute unterm Strich kaum noch schlechter ab als der Westen. Deutlicher sind die Unterschiede zwischen Stadt/Land und Nord/Süd. So habe Thüringen unter den Bundesländern eine besonders niedrige Schuldenquote, nahezu gleichauf mit Bayern und Baden-Württemberg. Im Land Brandenburg sank die Schuldenquote besonders tief.

Für die Zukunft sieht Creditreform allerdings schwarz: Die hohe Inflation, auslaufende Corona-Hilfen und die steigende Zahl der Unternehmensinsolvenzen – und damit die Gefahr von Arbeitslosigkeit. Letztere ist der häufigste Auslöser einer Überschuldungsspirale. Als besonders heikel sehen die Wirtschaftsforscher die Entwicklung der Zinssätze an, vor allem in der Baufinanzierung. Formal kleinere Zinsunterschiede machten für Häuslebauer bei Anschlussfinanzierungen einen gewaltigen Unterschied, oftmals verdoppelten sich die monatlichen Raten. Was am Ende auch Mieter trifft.

Das Durchschlagen der »historisch schlechten Konjunkturindikatoren« auf die Verbraucher sei nur eine Frage der Zeit. Überschuldung sei ein »nachlaufender Faktor«, in dem sich gesellschaftliche Entwicklungen erst später niederschlagen. Inzwischen wird das gesellschaftliche Problem der Überschuldung auch von Banken ernstgenommen. Dort sieht man seit längerem einen Trend zur »strukturellen Überschuldung«. Soll heißen, Verbraucher überziehen nicht aus Leichtsinn oder Unkenntnis ihr Konto, sondern aufgrund knapper Ressourcen. Es fehlt also an Geld, um einen bescheidenen – oder teils auch üppigen – Lebensstandard zu finanzieren. Einige Geldinstitute versuchen, mit einfachen Maßnahmen der Überschuldung entgegenzuwirken. Sie reichen mit modernen »Nudges«, also Denkanstößen und Erinnerungshilfen, oder auch mit Finanzcoaching Hilfe zur Selbsthilfe.

Gleichzeitig wurden von der Politik einige Möglichkeiten für Verbraucher geschaffen, um leichter aus einer Schuldenfalle zu entkommen. So hat jeder Bürger seit 2016 Anspruch auf ein Girokonto mit grundlegenden Funktionen (»Basiskonto«) – auch Obdachlose, Asylsuchende und Geduldete. Festgeschrieben ist dies im Zahlungskontengesetz, mit dem der Bundestag eine Richtlinie der Europäischen Union umsetzte. Überschuldete können ein vorhandenes Girokonto in ein Pfändungsschutzkonto umwandeln. Das »P-Konto« schützt vor willkürlichen Zugriffen von Gläubigern. Und durch ein sogenanntes Verbraucherinsolvenzverfahren können sich Betroffene mittelfristig aus den roten Zahlen herausarbeiten.

Die Adresse der nächsten anerkannten Schuldnerberatungsstelle – Verbraucherschützer warnen vor privaten, kommerziellen Vermittlern – können bei der jeweiligen Stadt- oder Kreisverwaltung, dem zuständigen Insolvenzgericht oder im Internet unter www.forum-schuldnerberatung.de in Erfahrung gebracht werden. Verbraucherzentralen führen kostenlose Infoveranstaltungen dazu durch, wie Menschen ihre Schulden in den Griff kriegen können. Allerdings sollten Betroffene Geduld mitbringen. Viele Beratungsinstitutionen arbeiten längst an ihrer Kapazitätsgrenze und darüber hinaus.

Die Wirtschaftsauskunftei Creditreform arbeitet auch als Inkassodienstleister. Die besondere Struktur ist seit 144 Jahren gleich: Die über 160 000 Unternehmen, die auf die Daten zugreifen, sind nicht Kunden bei Creditreform, sondern Mitglieder bei einem der rund 150 lokalen Vereine. Da der Schulden-Atlas tiefe Einblicke in einzelne Regionen und Bevölkerungsgruppen gewährt, greifen auch Städte und Gemeinden auf ihn zurück, berichtet Creditreform-Chef Bernd Bütow. Neben Neuss, wo der Hauptsitz der Auskunftei ist, und anderen Kommunen nennt Bütow hier auch Großstädte wie München.

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