Der Löwe stürmt den Präsidentenpalast

Der ultrarechte Javier Milei will Argentinien radikal verändern

  • Martin Ling, Buenos Aires
  • Lesedauer: 5 Min.

»Ich bin voller Adrenalin. Argentinien steht vor einem Neuanfang.« Die Begeisterung von Nahuel über den Sieg von Javier Milei bei der Party am Obelisken mitten in der Hauptstadt Buenos Aires ist greifbar. Nahuel ist mit vielen Tausenden, wie er zumeist unter 30-Jährigen, zum Wahrzeichen auf der Avenida 9 de Julio gekommen, um gemeinsam ein neues Argentinien zu feiern, auf das viele hoffen. In Argentinien darf schon mit 16 Jahren gewählt werden und mehr als 14,5 Millionen Argentinier*innen haben den ultrarechten Javier Milei gewählt, der angetreten ist, aufzuräumen mit dem politischen Establishment, mit der Kaste. »La casta tiene miedo« (Die Kaste hat Angst), »Cristina va a ser presa (Cristina wird ins Gefängnis wandern, Ex-Präsidentin Cristina Kirchner, d. Red.), »Que se vayan todos« (Alle sollen abhauen) gehören neben »Argentina, Argentina« und Mileis Leitspruch »Viva la libertad, carajo« (Es lebe die Freiheit, verdammt nochmal) zu den meist skandierten Sprechchören, die die Argentinier*innen mit oft Fußballsongs entlehnten Melodien in die laue Frühlingsnacht brüllen.

Überhaupt ist die Atmosphäre ähnlich wie an Spieltagen, selbst ein großer Grill mit Würsten und Steaks ist mitten auf einer der Hauptverkehrsadern aufgebaut, die am Wahltag in Teilen gesperrt wurde. Die Stimmung ist ausgelassen. Auch der Fußballweltmeistertitel wurde vergangenen Dezember am Obelisken gefeiert, eines der wenigen freudigen Ereignisse in den vergangenen Jahren, die von der Pandemie und einer dreijährigen Dürre gezeichnet waren, die 2023 beim Hauptexportbringer Agrarwirtschaft mit 20 Milliarden Dollar ins Kontor schlägt.

Ausgelassene Stimmung auf der Straße

Argentinien steckt wieder einmal in einer tiefen Wirtschaftskrise mit Währungsverfall, hoher Inflation und Rückgang der Wirtschaftsleistung ähnlich jener Krise von 2001/2002, als der Slogan »Que se vayan todos« erstmals aufkam – der jetzt wieder kursiert und vom Emporkömmling Milei befeuert wird. Bei vielen Argentinier*innen trifft Mileis Versprechen, die Privilegien der Politiker*innen abzuschaffen, auf Zustimmung. Vor allem bei jungen Menschen, die erst nach dem Ende der Diktatur (1976-1983) geboren wurden und wenig Chancen auf sozialen Aufstieg für sich sehen. So wie der 18-jährige Kioskverkäufer Luciano, der für den Wandel votierte und damit für Milei. »Mich überzeugt keiner der beiden Kandidaten, aber ich will nicht, dass alles weitergeht wie bisher. Seit ich mich erinnern kann, ist Krise und Inflation, das muss sich ändern.«

Auch eine Gruppe Gymnasiasten hat sich samt und sonders für die Wahl von Milei entschieden, obwohl sie von ihm nicht überzeugt sind. »Milei hat gute und schlechte Seiten, Massa hat mehr schlechte Seiten«, argumentiert Máximo und Yasmín meint, »wir haben nur eine schreckliche Auswahl an Kandidaten«. Für beide ist Milei das kleinere Übel, wenigstens verkörpert er die Hoffnung auf einen Neuanfang, während Massa für das Fortbestehen des Kirchnerismo steht, obwohl der zentristische Peronist selbst Cristina Kirchner weder politisch noch persönlich nahe steht. »Wir haben die Wahl zwischen einem Psychopathen und einem Psychotiker« bringt es der Psychologe Sebastían ein paar Tage vor den Wahlen im Kulturzentrum Morán auf den Punkt. »Ich werde einen leeren Wahlzettel abgeben, aber ich glaube, dass der Psychopath Milei als Präsident dem Land mehr Schaden zufügen würde als Massa«, schließt er seine Kurzanalyse.

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Milei kündigt umfassende Veränderungen an

Während Massa schon vor der Verkündung des offiziellen Wahlergebnisses um 21 Uhr seine Niederlage in einer staatstragenden Rede einräumte, ließ Milei länger auf sich warten. Unter Beifall und Jubel betrat der frisch gewählte argentinische Präsident nach zehn Uhr abends die Bühne, wo seine Schwester und Wahlkampfmanagerin Karina auf ihn wartete, die von Milei als el jefe (der Chef) bezeichnet wird. »Guten Abend an alle guten Argentinier, heute beginnt der Wiederaufbau Argentiniens.« Der Chef der ultrarechten La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) machte klar, dass drastische und dringende Veränderungen auf seiner Agenda stünden. Und er warnte, dass er gegen gewaltsame Proteste unerbittlich sein wird. Dass es in den kommenden Monaten nach seiner Amtsübernahme am 10. Dezember vom abgetauchten Mitte-links-Präsidenten Alberto Fernández zu Auseinandersetzungen auf der Straße als Reaktion auf seine Anpassungsmaßnahmen kommen wird, ist eine der wenigen sicheren Prognosen, die sich für Argentinien derzeit abgeben lassen.

Milei betonte, dass Argentinien unter seiner Regierung die eingegangenen Verpflichtungen einhalten, das Privateigentum und den freien Handel respektieren werde. »Das Modell der Dekadenz ist zu Ende, es gibt kein Zurück mehr«, sagte er in Anspielung auf den Kirchnerismus, der 16 der vergangenen 20 Jahre regiert hat. Der gewählte Präsident warf seinen Vorgängern vor, Argentinien von einem der reichsten Länder der Welt auf Platz 130 gebracht zu haben, wo 40 Prozent der Bevölkerung in Armut leben. »Wenn ihr mir 20 Jahre gebt, sind wir Deutschland. Wenn ihr mir 35 Jahre gebt, sind wir die Vereinigten Staaten«, hat Milei, der sich selbst als Löwe und König einer verlorenen Welt stilisiert, vollmundig ausgegeben. Dass in Argentinien mehr als zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten, also mehr als acht Jahre ohne Unterbrechung, in der Verfassung für eine Präsidentschaft nicht erlaubt sind, dürfte dem 52-jährigen Anarcho-Kapitalisten Milei egal sein. Argentinien stehen turbulente Zeiten bevor.

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