Gehörlose Menschen in Berlin: Überall Barrieren

Rund 6000 gehörlose Menschen leben in Berlin, gesellschaftlicher Zugang wird ihnen erschwert

Die Amerikanische Gebärdensprache gibt es seit 1960, die Deutsche Gebärdensprache wurde erst 2002 anerkannt.
Die Amerikanische Gebärdensprache gibt es seit 1960, die Deutsche Gebärdensprache wurde erst 2002 anerkannt.

Mit einer Viertelstunde Verspätung startet am Donnerstagmorgen der Ausschuss für Arbeit und Soziales im Berliner Abgeordnetenhaus. »Wir mussten erst noch alles vorbereiten«, entschuldigt sich Aziz Bozkurt, SPD-Staatssekretär für Soziales. Denn ausnahmsweise wird diese Sitzung von zwei Gebärdensprachdolmetscher*innen übersetzt. Bis sie die richtige Position im Raum gefunden haben, um sowohl mühelos von den eingeladenen Gästen gesehen als auch von der Kamera für die Video-Übertragung gefilmt zu werden, vergehen ein paar Minuten.

Ein Sinnbild für die Situation gehörloser Menschen in Berlin. Rund 0,1 Prozent der Bevölkerung sind gehörlos, in Berlin sind es rund 6000 Personen. Dass sie Zugang zu den Veranstaltungen, Räumen, schlicht zu den Welten haben, die sich an der Realität hörender Menschen orientieren, ist nach wie vor nicht selbstverständlich. Christian Peters vom Gehörlosenverband Berlin und Lukas Wozniak, Referent für Deutsche Gebärdensprache und Gehörlosenkultur des Bundesbeauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen, berichten den Ausschussmitgliedern, an welchen Stellen es mit Inklusion und Teilhabe noch hakt. Heraus kommt: überall.

»So, wie es läuft, läuft es nicht gut«, stellt Peters fest. In allen Lebensbereichen stoßen gehörlose auf Hürden – einfach weil viel zu selten eine unkomplizierte Übersetzung zur Verfügung stehe. Peters erzählt von Problemen auf dem Arbeitsmarkt: Schon die Suche nach einem Job gestalte sich sehr schwierig. »Da muss man dann 400, 500 Bewerbungen verschicken, und irgendwann kommt natürlich das Gefühl auf, dass man nicht erwünscht ist.«

Marcel Wallisch kann das bestätigen. Er arbeitet beim Jobcenter Lichtenberg und vermittelt zwischen gehörlosen und anderweitig behinderten Kund*innen, die Arbeit suchen, sowie Betrieben, die Stellen besetzen wollen. »Aufseiten der Arbeitgeber ist das wirklich ein dickes Brett«, sagt Wallisch. »Man muss gegen Vorurteile kämpfen und sie überzeugen, dass gehörlose Menschen leistungsfähig sind.«

Die landeseigenen Unternehmen und der öffentliche Dienst machen da laut Wallisch keinen Unterschied. Hier würde ebenfalls stark ausgesiebt und vor allem auf die Arbeitserfahrung geachtet, die bei Menschen mit Behinderung in der Regel kleiner sei. Viele Arbeitgeber hätten zudem schlicht Angst vor dem Mehraufwand. »Natürlich macht das Dinge komplizierter, Teambesprechungen müssen neu organisiert werden«, sagt Wallisch. Doch nach erfolgreichen Vermittlungen erreiche ihn häufig das Feedback, dass alle Kolleg*innen von der inklusiveren Struktur profitierten. »Wenn es zum Beispiel klare Kommunikationswege gibt, gehen nicht so schnell Informationen verloren.«

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Auch wenn es zur Anstellung kommt, bleibt es anstrengend. Denn insbesondere für die Einarbeitung und während der Probezeit brauchen gehörlose Angestellte eine verlässliche Gebärdensprachdolmetschung. Dies als Inklusionsleistung zu beantragen, bedeutet jedoch viel Aufwand – und dauert. »Wenn ich sechs Monate warten muss, kann ich in der Probezeit dem Arbeitgeber gar nicht zeigen, was ich leisten kann«, erklärt Peters das Problem. Außerdem bliebe das bürokratische Prozedere ausschließlich an den Betroffenen hängen, ergänzt Lukas Wozniak. »Die Verantwortung liegt bei den Tauben Menschen, die dadurch nicht gleichberechtigt mit den hörenden Kolleg*innen arbeiten können, weil sie neben der eigentlichen Arbeit noch so viel extra Arbeit leisten müssen.«

Überhaupt eine*n Gebärdensprachdolmetscher*in in Berlin zu finden, stellt Wozniak und Peters zufolge immer wieder eine Herausforderung dar. Den Mangel erklären sie sich mit der späten Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache (DGS). Erst seit 2002 gilt sie im Bundesgesetzbuch als eigene Sprache, Studiengänge für Gebärdensprachdolmetschung sind nach wie vor rar. Aktuell gibt es in ganz Deutschland rund 800 Dolmetscher*innen, aber rund 80 000 gehörlose Menschen und zusätzlich etwa 120 000 Menschen mit Hörbehinderung nutzen die DGS.

Die Dolmetscher*innen arbeiten meistens freiberuflich, deshalb müssten sie sich die Aufträge aussuchen und schlecht bezahlte Jobs ablehnen, erklärt Peters. »Im Ehrenamtsbereich werden keine Dolmetschenden engagiert. Das heißt, es können sich gehörlose Menschen dort nicht engagieren.«

Beide fordern eine zentrale Koordinierungsstelle Gebärdensprachdolmetscher*innen in Berlin, und ein Budget, das für deren Bezahlung angezapft werden kann. Um nachhaltig Barrieren abzubauen, müssten hörende Menschen außerdem frühzeitig sensibilisiert werden. Wozniak, der selbst als Sonderschullehrer arbeitete, findet es richtig, dass DGS zum Rahmenlehrplan für Berliner Schulen gehört. »Es ist eine große Bereicherung für Kinder, die Deutsche Gebärdensprache zu lernen, und es ist ein wertvoller Beitrag zur Inklusion.« Allerdings sei es wichtig, dass die Lehrer*innen Taub seien.

Die Ausschussmitglieder stimmen zu: Es muss noch viel passieren, bis Berlin eine Stadt für alle ist. Katina Schubert, Linke-Abgeordnete und Sprecherin für Soziales, sieht in der eigenen Partei Handlungsbedarf: »Wir haben zwar die Regel, dass wir unsere Parteitage übersetzen lassen, aber bei kleineren Veranstaltungen wird es schon schwieriger.« Ein typisches Beispiel für einen Teufelskreis, den auch Wozniak beschreibt: Wenn der Zugang fehlt, haben gehörlose Menschen seltener die Chance, für ihre Belange einzutreten – und von den Hörenden gehört zu werden.

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