Frauen protestieren in Russland: Bringt unsere Männer nach Hause

In Russland protestieren immer mehr Frauen von Mobilisierten gegen die lange Abwesenheit ihrer Männer

  • Ewgeniy Kasakow, Daniel Säwert
  • Lesedauer: 4 Min.
Russische Soldaten bereit zur Abreise
Russische Soldaten bereit zur Abreise

Von dieser Art der Revolution hielt Gennadi Sjuganow sicherlich nichts. Als er und seine Kommunistische Partei am 7. November im Moskauer Stadtzentrum der Oktoberrevolution gedachten, konfrontierte ihn eine Gruppe Frauen. »Bringt unsere Männer nach Hause!«, »Gerechtigkeit für die Mobilisierten. Es ist Zeit, heimzukehren!«, »Mobilisierte sind keine Roboter. Sie müssen unbedingt ausgetauscht werden« oder »Bringt den Kindern ihre Väter zurück« stand auf den kleinen Plakaten, die sie in den Händen hielten. Vom Kommunistenführer wollten sie wissen, wann die Rotation kommt und ihre Männer endlich nicht mehr kämpfen müssen. Der sichtlich peinlich berührte Sjuganow hielt den Demonstrantinnen einen Kurzvortrag über die Gefahren, die drohen, sollte der ukrainische »Nazismus« über Russland siegen. Danach wurden die Frauen von der Parteikolonnen weggedrängt.

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Seit Anfang November macht sich in Russland eine neue Protestbewegung breit, die sich der üblichen Einteilung in »Pro-Putin« und »oppositionell« entzieht. Über ein Jahr nach der Mobilisierung von 300 000 Männern für den Krieg in der Ukraine wollen sie ihre Lebensgefährten wiederhaben. Sie fordern, dass die Männer endlich von der Front nach Hause kommen. Im Internet tauschen sich die Frauen aus und koordinieren ihre Aktionen, etwa das Einreichen von Petitionen bei staatlichen Stellen und Protest mit Plakaten auf der Straße. Aufmerksam wurde die Öffentlichkeit auf den neuen Protest, nachdem der linkspatriotischer Videoblogger Dmitri »Goblin« Putschkow die Frauen als eine vom Geheimdienst gesteuerte Gruppe von »Panikmacherinnen« verunglimpfte und damit viral ging. Seitdem tauchen immer mehr Videos von Aktionen auf.

Die aktuellen Proteste sind nicht die ersten seit dem Überfall auf die Ukraine. Zu Beginn der Mobilierung entstand bereits der Rat der Mütter und Frauen, organisiert von Angehörigen der Betroffenen. Die Frauen wollten eine bessere Versorgung der Moblisierten durchsetzen und verhindern, dass Wehrpflichtige gesetzeswidrig an die Front geschickt werden. Und sie verlangten ein Treffen mit Präsident Wladimir Putin, der stattdessen ein Treffen mit Frauen inszenierte, die allesamt aus dem Machtzirkel stammen. Im Juli stellte der Rat der Mütter und Frauen nach zunehmendem Druck seine Arbeit ein.

Nun, zu Beginn des zweiten Kriegswinters, scheint das Bild des patriotisch mobilisierten Volkes, das fest hinter seinem Präsidenten und seiner »Spezialoperation« steht, erneut Risse zu bekommen. Für einen Bruch zwischen Gesellschaft und Macht reicht es jedoch nicht, auch wenn Oppositionelle wie Maxim Kaz ihre Anhänger dazu aufrufen, die Bewegung zu unterstützen. Denn gegen den Krieg sind die meisten Frauen nicht, sie wollen lediglich erreichen, dass jetzt andere Männer in den Krieg ziehen müssen. Zumal Männer, die sich freiwillig gemeldet haben, nach einem halben Jahr nach Hause konnten, während die Mobilisierten seit über einem Jahr in der Ukraine sind.

Der Forderung nach einer Rotation hatte der Vorsitzender des Duma-Ausschusses für die Verteidigung, Generaloberst Andrei Kartapolow (Einiges Russland) bereits im September eine Abfuhr erteilt. Mobilisierte müssen bis zum Ende der »Spezialoperation« an der Front bleiben, sagte er damals.

Auch wenn der Protest der Frauen keine Gefahr für die Regierung darstellt, beobachtet ihn der Kreml genau. Gut vier Monate vor der Präsidentschaftswahl kann man keine Unruhe gebrauchen. Die Frauen werden durchaus als Risikofaktor gesehen, die von »ausländischen Missgönnern« zur Destabilisierung im Land genutzt werden können. So jedenfalls wurde es den Vizegouverneuren der russischen Regionen, die für innere Sicherheit zuständig sind, vor Kurzem auf einem Seminar erklärt, berichtet die Tageszeitung »Kommersant«. »Die Aufgabe lautet, jeden Protest von außen verstummen zu lassen. Überreden, versprechen, bezahlen. Egal was, Hauptsache, niemand geht auf die Straße, nicht mal 50 Menschen«, zitiert »The Insider« eine Person aus einer regionalen Verwaltung.

Wie das aussehen soll, kann man bereits beobachten. In Moskau, St. Petersburg, Kemerowo, Tscheljabinsk, Krasnojarsk wurden Veranstaltungen mit dem Verweis auf die Pandemie-Maßnahmen untersagt. Die Plattform »Rabkor«, gegründet vom weiterhin inhaftierten Soziologieprofessor Boris Kagarlitzki, berichtet, dass Behörden in verschiedenen Regionen Infiltration, Bestechung und Drohungen einsetzen, um Proteste einzudämmen. Aus den Gebieten Kemerowo und Krasnojarsk sind Fälle bekannt, in denen Polizisten die Frauen in ihrer Wohnung aufsuchten oder telefonisch bedrängten.

Auch auf der anderen Seite der Front, in der angegriffenen Ukraine, gibt es Widerstand gegen die Mobilisierung. Am 27. Oktober kam es in Kiew, Odessa, Poltawa und zehn weiteren ukrainischen Städten zu Kundgebungen, auf denen unter anderem »Demoblisierung für unsere Verteidiger«, »Soldaten werden auch müde« und »Nennt uns das Datum der Demoblisierung« skandiert wurde.

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