Jagd auf Geflüchtete in Serbien

Seit Wochen läuft eine »Spezialoperation« unter EU-Beteiligung. Angeblich richtet sie sich gegen Schleuser und »Terroristen«

  • Katharina Rödiger
  • Lesedauer: 9 Min.

Es ist Anfang Oktober und ich sitze in einem Van. Er ist vollgepackt mit zwei großen Wassertanks, Hygieneartikeln und mobilen Duschen. Nach einer halben Stunde Fahrt kommen wir an, fangen an aufzubauen. An einer Wand fällt eine Malerei ins Auge, auf der »No borders just people« neben einem fröhlichen Gesicht einer Maus steht. Der Nachmittag in Vitaminka beginnt. So wird ein Camp in unmittelbarer Nähe der 100 000-Einwohner-Stadt Subotica im Norden Serbiens genannt, in dem sich Menschen aufhalten, die über die Balkanroute versuchen, in Länder der EU zu gelangen. Der Norden Serbiens grenzt an Ungarn und ist Teil der Route. Sie ist die zweitaktivste Fluchtroute nach jener über das Mittelmeer. Allein im vergangenen Jahr kamen auf ihr rund 125 000 Menschen durch Serbien. Von Ungarn ist das Land durch einen 2015 gebauten, 175 Kilometer langen Sicherheitszaun aus Nato-Draht getrennt.

Normalerweise fahren Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen an fünf bis sechs Tagen pro Woche zu den verschiedenen Orten, an denen sich die Menschen aufhalten, um sie mit Essen, Wasser, Tee, mobilen Duschen, einer Ladestation für Mobiltelefone, Kleidung und Hygieneartikeln zu versorgen. Dabei wird zwischen den offiziellen staatlichen Camps und den informellen unterschieden. Letztere werden als Squats bezeichnet. Die staatlichen Einrichtungen werden von der EU mitfinanziert.

EU finanziert staatliche Camps für Geflüchtete

In den informellen Squats treffen wir auf Gruppen von 50 bis 250 Personen. Dabei dürfte die Zahl derer, die sich dort tatsächlich aufhalten, deutlich höher sein. Häufig sind es verlassene und heruntergekommene Gebäude, manchmal aber auch Felder oder kleine Plätze mitten im Wald. Die Areale sind oft sehr weitläufig und unübersichtlich, sodass wir nicht alle hier Lebenden sehen und erreichen können.

Die meisten, die wir treffen, kommen aus Afghanistan oder Syrien und haben bereits vor Monaten ihre Heimat auf der Suche nach einer sicheren Perspektive verlassen. Das Team, mit dem ich unterwegs bin, versucht, die Hilfsgüter nicht nur abzuliefern und als Dienstleistende zu fungieren. Die Mitglieder nehmen sich Zeit, Nachmittage mit den Menschen zu verbringen. Sie spielen Basketball, Fußball oder Karten, trinken zusammen Tee, malen mit den Kindern oder sprechen miteinander über alles Mögliche, in meinem Fall fast immer mit Hilfe meines Handys, das Arabisch oder Paschtu ins Deutsche oder Englische übersetzt. Dabei erzählen die Menschen fast jedes Mal von all der Gewalt, die ihnen auf ihrem Weg widerfahren ist. Ich fragte nach, um Fälle strukturell bedingter und systematischer Gewalt gegen Menschen auf der Flucht zu dokumentieren.

Hartes staatliches Durchgreifen nach Schießerei

Doch all dies ist seit dem 27. Oktober so nicht mehr möglich. In den frühen Morgenstunden gab es an diesem Tag eine Schießerei mit insgesamt drei Toten in einem Squat in Horgoš, einem Ort etwa 30 Kilometer östlich von Subotica. Wir waren mehrfach dort und haben meist zwischen 50 und 100 Menschen getroffen. Nach Berichten serbischer Medien, aber auch von anwesenden People on the Move – Mitglieder von Hilfsorganisationen nennen die Bewohner der Squats »People on the Move«, um Kategorisierungen zu vermeiden – ging der Schießerei ein Konflikt zwischen zwei verfeindeten Schleusergruppen voraus. Noch am selben Tag beschloss das serbische Innenministerium, den Vorfall zum Anlass für eine »Spezialoperation« zu nehmen, deren offizielles Ziel die Bekämpfung des Schmuggels von Menschen und Waffen ist. Es gehe darum, die Bevölkerung zu schützen und kriminelle oder gar terroristische Strukturen zu zerschlagen, hieß es.

In der Realität wurde dieser Kampf in den vergangenen fünf Wochen allerdings auf dem Rücken der People on the Move ausgetragen. Nach offiziellen Angaben wurden in diesem Zeitraum mehr als 6000 Menschen in andere Teile des Landes gebracht, insbesondere in den Süden, an die Grenzen zu Moldau und Nordmazedonien. Auch im Westen des Landes an der Grenze zu Kroatien kamen in den vergangenen Wochen zahlreiche Busse mit Menschen an, die sich zuvor im Norden aufgehalten hatten und zwangsweise dorthin gebracht wurden. Erneut in den Norden Serbiens und somit an die Grenze zu Ungarn zu gelangen, würde mehrere Hundert Euro kosten.

Die offiziell genannte Zahl gefundener Waffen und von Festnahmen ist in Relation zu mehreren Tausend Vertriebenen verschwindend gering. Den Zwangsverfrachtungen gehen zum Teil gewaltsame Räumungen der Squats voraus. Betroffene berichten von Schlägen und Tritten durch Polizeibeamt*innen, von der Zerstörung von Eigentum wie Mobiltelefonen.

Squats der Geflüchteten gewaltsam geräumt

In den meisten Squats ließ sich über die ersten Wochen der »Spezialoperation« beobachten, dass die Polizist*innen täglich eine Handvoll Menschen mitnahmen und zugleich immer wieder Eigentum von anderen Personen zerstörten. Die permanente Polizeipräsenz und die Angst vor Vertreibungen sorgten dafür, dass sich die Menschen entschieden, sich nicht mehr in Gebäuden aufzuhalten, sondern in den Feldern zu schlafen, um sich im Fall eines erneuten Polizeieinsatzes besser verstecken und einfacher flüchten zu können. Dabei sanken die Temperaturen im vergangenen Monat kontinuierlich, und es regnete häufiger. Die Nachrichten von Menschen, die sich versteckt halten und verzweifelt nach Regenkleidung, Schlafsäcken, Schuhen oder Essen fragten, häuften sich.

Auch Berichte darüber, dass die Polizei auf Menschen schießt, haben die Hilfsinitiativen erhalten. Verifizieren lassen sich diese Aussagen nicht, aber durch Videotelefonate mit People on the Move wissen die Helfer, dass zumindest immer wieder Warnschüsse in die Luft abgegeben wurden und regelmäßig körperliche Gewalt angewendet wurde. Zudem gleichen sich Erfahrungsberichte unterschiedlichster Personen zur Gewalt des serbischen Staates weitgehend.

An der »Spezialoperation« sind neben Polizeieinheiten auch das Militär, Spezialeinheiten der Antiterroreinheit, Einheiten des Innenministeriums, Beamt*innen der EU-Grenzbehörde Frontex, Grenzpolizei, ungarische und weitere Einheiten beteiligt. Sogar ein Panzer wurde auf der Zugangsstraße zu dem Squat positioniert, in dem vor einem Monat die Schießerei stattfand. Auch durch die Beteiligung Ungarns ist es für die meisten Menschen unmöglich geworden, auf EU-Territorium zu gelangen.

»Spezialoperation« behindert humanitäre Hilfe

Dazu kommt, dass durch den Einsatz humanitäre Hilfe nahezu unterbunden wurde. Über die gesamte Zeit der »Spezialoperation« wurden alle Organisationen an ihrer Arbeit gehindert und mit Kriminalisierung bedroht. Auch wenn sie in Serbien registriert und ihre Tätigkeiten legal sind, wurde der Zugang zu Squats, aber auch zum Umfeld offizieller Camps verwehrt. Teils geschah dies durch Blockaden der Zufahrtsstraßen, aber auch durch Kontrollen von Personalien und Fahrzeugen, Androhung von Festnahmen, körperliche Gewalt gegenüber Aktivist*innen und Einschüchterungsversuche. Kontrollen dauerten teilweise mehrere Stunden.

Eine humanitäre und medizinische Versorgung der Menschen wurde dadurch beinahe unmöglich gemacht. Erreichte die Initiative, mit der ich unterwegs war, vor dem 27. Oktober in der Regel 700 bis 800 Menschen pro Woche, so konnten in den ersten Wochen des Einsatzes gerade einmal 20 bis 30 Menschen mit dem Nötigsten versorgt werden. Dies war mit dem Risiko verbunden, selbst festgenommen zu werden oder die Polizei auf Geflüchtete aufmerksam zu machen.

Mittlerweile ist auch das staatliche Camp in Subotica geräumt, in dem sich rund 200 Menschen aufhielten. Alle uns bekannten Squats sind verlassen, und am 18. November wurde in den frühen Morgenstunden mit dem Camp Sombor 60 Kilometer südwestlich von Subotica das letzte staatliche Lager im Norden geräumt. Zuvor waren im Zuge der »Spezialoperation« immer wieder Menschen, deren informelle Camps geräumt worden waren, dorthin gebracht worden.

Inhumanie Zustände in Lagern

Was sich in den vergangenen Wochen in Sombor abgespielt hat, war an Inhumanität kaum zu überbieten. Offiziell wurden bei der Räumung mehr als 1000 Menschen weggebracht. Wir waren zuvor davon ausgegangen, dass sich 500 bis 700 Personen in und um das Camp herum aufhielten, womit es schon maßlos überfüllt gewesen wäre. Uns wurden Bilder und Videos gezeigt, auf denen zu sehen ist, dass Menschen in Fluren auf dem Boden schliefen, weil es nicht genug Betten gab. Auch der Zugang zu sauberem Wasser war teilweise nicht gegeben, und das Essen reichte nicht für alle aus. Die Menschen berichteten von mangelnder hygienischer und medizinischer Versorgung. Bilder von unbehandelten entzündeten Wunden, Krätze und Verletzungen in Folge polizeilicher Übergriffe häuften sich.

Hinzu kam, dass nur die wenigsten registriert waren und über eine Camp-ID verfügten, die notwendig ist, um zum Gebäude und somit der Versorgung Zutritt zu erlangen. Der Großteil der Menschen schlief deshalb in den Feldern rund um das Camp und im angrenzenden öffentlichen Park.

Trotzdem wurde uns der Zugang über den gesamten Monat verwehrt, ohne rechtliche Grundlage. Dabei spielten sich das zuständige Kommissariat für das Camp und die Polizei gegenseitig die Bälle zu und behaupteten, die jeweils andere Partei sei für die Zugangserlaubnis zuständig.

Serbiens Brutalität durch Wahlen und EU-Beitritt bedingt

Gleichzeitig wurde es den Menschen untersagt, das Gelände zu verlassen, um selbst Essen oder Kleidung zu kaufen. In den Tagen vor der finalen Räumung brannten Polizeieinheiten sämtliche Zelte im Umfeld des Camps nieder. Die meisten Betroffenen verloren dadurch alle ihre Habseligkeiten. Der Tag danach war einer der regenreichsten der vergangenen Wochen.

Bei der offiziell gegen Schleuserkriminalität gerichteten Operation geht es offenbar auch um andere Interessen wie die anstehenden Parlamentswahlen oder auch die Perspektive auf einen EU-Beitritt. Anders lässt sich nicht erklären, dass zu Beginn des Einsatzes insbesondere Familien und Frauen aus dem Norden weggebracht wurden, Räumungen und Polizeigewalt regelmäßig undifferenziert alle Menschen treffen und jede humanitäre Hilfe vereitelt wird. Zudem floriert das Geschäft von Schleusern und korrupten Beamt*innen nur in einem System, das Migration illegalisiert.

NGOs rechnen damit, dass die Operation zumindest bis zu den Wahlen am 17. Dezember anhalten wird. Laut letzten Aussagen von Verantwortlichen soll sie so lange weitergehen, wie es nötig ist, um das verfolgte Ziel zu erreichen. Damit dürfte gemeint sein, dass man auch die letzten sich versteckenden Menschen finden und wegbringen will, ohne Rücksicht auf deren Verfassung. Angesichts des Beginns des Winters steht zu befürchten, dass auch an dieser EU-Außengrenze weitere Menschen sterben werden.

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