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Gefährliche Fluchtrouten

Pushbacks, Gewalt, Schleierfahndung: Die EU hält Geflüchtete ab und treibt sie damit in den Tod

  • Dorothée Krämer
  • Lesedauer: 4 Min.

Beim Untergang zweier Flüchtlingsboote vor der griechischen Küste sind mindestens 16 Menschen gestorben. Rund 30 Menschen wurden noch vermisst, wie die griechische Küstenwache am Donnerstag mitteilte. Tragödien wie diese sind an vielen Grenzen der Europäischen Union mittlerweile Alltag. Gleichzeitig werden in Deutschland wieder Rufe laut, die Balkanländer mögen Migrant*innen auf dem Weg nach Deutschland stoppen. Österreich und Tschechien haben ihre Grenzkontrollen verstärkt. Am Donnerstag kündigte der bayerische Innenminister Joachim Hermann (CSU) an, die Schleierfahndung in den Grenzgebieten zu Tschechien und Österreich weiter auszubauen. Der EU-Außengrenzschutz sei »leider mangelhaft«, behauptete er.

Doch das Gegenteil ist der Fall. Das zeigt auch ein Schiffsunglück eines voll besetzten Bootes vor der Küste Syriens am 22. September, das in Europa nur eine Randnotiz war. Über hundert Tote wurden geborgen. Nur 21 Menschen haben überlebt, viele werden weiterhin vermisst. Das Boot war am Tag zuvor vom Libanon aus gestartet. An Board waren Menschen aus dem Libanon, Syrien und den palästinensischen Gebieten. Das Ziel: Italien, etwa 1500 km Luftlinie entfernt, einmal durchs halbe Mittelmeer. Das Unglück war zwar das bisher schwerste auf dieser Route, aber bei weitem nicht das Erste. Immer mehr Menschen wählen diese extrem weite, teure und gefährliche Route, die aus dem Libanon oder der Türkei an Griechenland vorbei direkt nach Italien führt.

Immer wieder kommt es dabei zu Seenotfällen mit Toten und Vermissten. Die Tatsache, dass immer mehr Menschen diese Route wählen, zeigt, wie effektiv die Gewalt gegen Flüchtende in Griechenland und entlang der Länder des Balkan mittlerweile ist. In einer gemeinsamen Mitteilung von Menschenrechtsorganisationen überwiegend aus dem Nahen Osten heißt es: »Diese Vorfälle ereignen sich, wenn Menschen gezwungen sind, sich auf immer gefährlichere Migrationsreisen zu begeben, aufgrund systemischer Gewalt, Pushbacks und Gefahren auf anderen Routen und des Fehlens legaler Migrationswege.«

Die an sich wesentlich kürzere Migrationsroute von Griechenland in die Türkei und dann weiter über den Balkan ist geprägt von illegalen Pushbacks (Zurückweisungen), folterähnlicher Gewalt, Diebstahl durch Grenzbeamt*innen und kaum Möglichkeiten auf sichere Unterbringung und Verpflegung. Viele Menschen hängen jahrelang in diesem Kreislauf der Gewalt fest. Dennoch steigt auch hier wieder die Zahl der Menschen, die den Weg auf sich nehmen. Das belegt ein Faktenpapier vom Mediendienst Integration vom Dienstag. Laut dem UN-Flüchtlingswerk UNHCR sind dieses Jahr bisher etwa 11 500 Menschen über die griechischen Inseln gekommen, im Vorjahr waren es insgesamt knapp 9200. Dazu kommt eine stärkere Frequentierung der Route über Bulgarien, die lange wegen massiver Grenzgewalt eine weniger große Rolle spielte. UNHCR zufolge kamen dieses Jahr bis jetzt 10 000 Menschen über die türkisch-bulgarische Grenze in die EU. Von Bulgarien reisen viele Menschen weiter nach Serbien, das sich im Winter zu einem neuen Hotspot entwickeln könnte. Schon jetzt stranden tausende Menschen in Nordserbien an der Grenze nach Ungarn in der Region um Subotica. Viele leben dort in leerstehenden Häusern oder informellen Camps ohne Wasser und Strom. Immer wieder kommt es zu gewaltsamen Räumungen durch die Polizei und Attacken durch rechtsextreme Bürgerwehren. Die Lage dürfte sich mit niedrigeren Temperaturen massiv verschlechtern.

Serbien spielt aber noch aus einem anderen Grund eine wichtige Rolle im aktuellen Grenzregime. Staatsangehörige etwa von Indien, Kuba, Tunesien und Burundi können visafrei einreisen und versuchen von dort aus, weiter in Richtung EU zu kommen. Spekulationen, dass Russland als enger Verbündeter Serbiens auf diesem Wege versucht, Druck auf die EU aufzubauen, konnten bisher nicht bestätigt werden. Aber die Weiterreise aus Serbien ist schwer. Die Grenze nach Ungarn ist bereits seit 2016 durch einen Grenzzaun kaum überwindbar, zudem können in Ungarn faktisch keine Asylanträge gestellt werden. Auch hier finden systematisch gewaltsame Pushbacks statt.

Warum nehmen dennoch wieder mehr Menschen diese traumatische Reise in Kauf? Ein Grund dafür ist sicherlich, dass es im Gegensatz zu Beginn der Corona-Pandemie wieder leichter ist zu reisen. Trotzdem sind die Zahlen im Vergleich zu den Jahren vor der Pandemie immer noch relativ niedrig. Das liegt auch daran, dass in den letzten Jahren das europäische Grenzregime weiter ausgebaut wurde. Doch die Kriege und Krisen in der Welt wurden nicht weniger. Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan trieb viele Menschen in die Flucht, zunächst über den Iran in die Türkei. Dort sind sie aber keineswegs sicher: Die Türkei schiebt ungeachtet der Taliban-Herrschaft nach Afghanistan ab. Auch für Syrer*innen, die nach wie vor die größte Gruppe an Geflüchteten in der Türkei ausmachen, wird die Lage zunehmend prekärer. Erdogan verfolgt den Plan, Millionen Syrer*innen in die von der Türkei besetzten Gebiete in Nordsyrien abzuschieben.

Der Winter kommt, und aller Voraussicht nach wird es auch dieses Jahr wieder Bilder von tausenden Menschen geben, die in den der EU vorgelagerten Ländern in Zelten und verlassenen Häusern versuchen, irgendwie zu überleben – ohne Möglichkeit zu heizen, ohne fließendes Wasser und Strom, ohne Lebensmittel und medizinische Versorgung.

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