Marx, Engels, Wissler, Schirdewan

Bundesvorsitzende der Linken lesen im Karl-Liebknecht-Haus aus dem Kommunistischen Manifest

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 5 Min.
Demonstration in Berlin: Die Werke von Karl Marx und Friedrich Engels bleiben spannend.
Demonstration in Berlin: Die Werke von Karl Marx und Friedrich Engels bleiben spannend.

Die Mutter der Linke-Bundesvorsitzenden Janine Wissler war in den 70er Jahren Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Als Tochter Janine im Mai 1981 in Hessen geboren wurde, war die Mutter schon ausgetreten. Doch an der Küchentür hing ein Spruch von Rosa Luxemburg, und in der Wohnung gab es ein Exemplar des »Manifests der kommunistischen Partei«. Nach der Bibel ist der von Karl Marx und Friedrich Engels 1848 veröffentlichte Text das am zweithäufigsten gelesene Buch der Welt. Auch Janine hat es gelesen. Das erste Mal schaute sie als junges Mädchen hinein, »mit 14 Jahren oder so«, und hat es später ganz gelesen.

»Ich war natürlich fasziniert von der Sprache«, erinnert sich Wissler am Mittwochabend. Kürzlich habe sie wieder einmal hineingeschaut, als sie ihre Rede für den Bundesparteitag in Augsburg vorbereitete. Da wollte sie sich vergewissern, ob sie eine Stelle korrekt im Gedächtnis hatte, die sie zitieren wollte: »An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.«

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Jetzt sitzt Wissler im Berliner Karl-Liebknecht-Haus im dortigen Café »Rosa« fast genau unter diesem Zitat. Es hängt an der Wand und gehört zu einer Ausstellung zu 175 Jahren Kommunistisches Manifest. Eröffnet wurde die Ausstellung am Dienstagabend von der Bundestagsabgeordneten Gesine Lötzsch und von Bundesgeschäftsführer Tobias Bank. Dazu sang der Ernst-Busch-Chor. Am Mittwochabend nun lesen die Bundesvorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan Auszüge aus dem Manifest und sprechen darüber mit Wanja Nitzsche, dem neuen Inhaber des Kleinen Buchladens im Karl-Liebknecht-Haus.

Auch Schirdewan soll dabei verraten, wann er das Manifest zum ersten und zum vorerst letzten Mal gelesen hat. »Meine Großeltern waren Kommunisten. Da war der Weg für mich nicht so weit zum Manifest«, erklärt Schirdewan. Auf sein Alter bei der ersten Lektüre kann er sich nicht exakt besinnen. »Aber ich war noch ganz jung.« Zuletzt habe er das Manifest gelesen, bevor er im Juni vergangenen Jahres zum Parteichef gewählt wurde. Da habe er wissen wollen, ob er auch alles richtig mache, und in dem Buch alle Antworten gefunden, die er brauchte. »Es ist immer noch eine sehr, sehr wichtige Grundlage für uns.« Über die »Irrungen und Wirrungen« der kommunistischen Bewegung müsse man als sozialistische Partei des 21. Jahrhunderts allerdings noch einmal diskutieren, findet Schirdewan. Karl Marx habe vor 175 Jahren nicht voraussehen können, was aus seinen Ideen gemacht wurde.

Schirdewan trägt aus dem Manifest einen Auszug über die Bourgeosie vor, Wissler eine Stelle über das Proletariat. »Es ist immer noch erstaunlich aktuell«, bemerkt Wissler. Sie zitiert aus dem Kopf: »Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiter selber sein.« Ihr fällt ein Erlebnis mit osteuropäischen Lkw-Fahrern ein, die sich auf einem deutschen Rastplatz sammelten und ihre seit Monaten ausstehenden Löhne forderten. Statt das seit Monaten fällige Geld endlich auszuzahlen, habe die Spedition zunächst Schlägertrupps geschickt, die einem Fahrer die Nase brachen. Doch durch die Solidarität vieler Kollegen konnten die Kraftfahrer ihr Recht am Ende erstreiten. Wissler hatte die Leute während ihrer Aktion besucht und erzählt nun ganz begeistert davon. Die Güter seien übrigens für deutsche Firmen transportiert worden.

Zu der Begebenheit passt der Verweis auf die Schrift »Die Lage der arbeitenden Klasse in England«, in der Friedrich Engels die besonders schlimme Ausbeutung zugewanderter irischer Arbeiter schildert, und irgendwie auch die Stelle aus dem Manifest, dass der Arbeiter erst vom Fabrikanten und dann auch vom Hausbesitzer, vom Pfandleiher und vom Krämer ausgeplündert werde. Mit Genuss liest Wissler aus dem Manifest vor: »Ihr werft uns vor, dass wir euer Eigentum aufheben wollen. Allerdings, das wollen wir!«

Heute gebe es ja gar keine richtige Arbeiterklasse mehr. Diese Behauptung, mit der die Erkenntnisse von Marx und Engels als überholt abgestempelt werden sollen, hat Wissler oft gehört. Sie wehrt sich aber gegen solche Einschätzungen. Es gebe sehr wohl noch ein Proletariat – »wenn wir Arbeiterklasse nicht so definieren: nur wer einen Blaumann anhat und in der Industrie arbeitet«.

Wissler war mal als Verkäuferin in einem Baumarkt beschäftigt und las in den Pausen die »Frankfurter Rundschau«. Bei viel Stress griff sie nach einigen Wochen öfter zur »Bild«, die im Pausenraum auf dem Tisch lag. Die politische Tendenz in dem Blatt war natürlich eine ganz andere, aber es war leichter zu lesen. Wissler wirbt dafür, linke Inhalte für Arbeiter verständlich zu formulieren, ohne Schachtelsätze, ohne Fremdworte.

Zu der Ausstellung gibt es bis zum 8. Dezember noch acht weitere Veranstaltungen, darunter an diesem Freitag um 18 Uhr ein Gespräch mit Ellen Brombacher von der Kommunistischen Plattform und Luisa Mayer von der Linksjugend Solid unter der Überschrift »Die Enkel fechten’s weiter aus«.

In der Wählergunst steht Die Linke heute nicht besonders gut da. Ihr werden bundesweit nur vier Prozent prognostiziert. Ein Gespenst geht um, das Gespenst einer Wahlwiederholung in allen Berliner Bundestagswahlkreisen Anfang 2024, wodurch die Sozialisten im schlimmsten Fall alle ihre Abgeordneten bis auf den Leipziger Sören Pellmann einbüßen könnten. Das Bundesverfassungsgericht will seine Entscheidung zur Wahlwiederholung am 19. Dezember verkünden. Die Linke hat nichts mehr zu verlieren als ihre Ketten.

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