Getöteter Überläufer in der Ukraine: Die dritte Front im Krieg

Kiews Geheimdienste ermorden Überläufer und Gegner in Russland und den besetzten Gebieten

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.
Tatort Luhansk: Stunden bevor Illja Kywa bei Moskau ermordet wurde, kam Oleh Popow durch eine Autobombe ums Leben.
Tatort Luhansk: Stunden bevor Illja Kywa bei Moskau ermordet wurde, kam Oleh Popow durch eine Autobombe ums Leben.

Der Country-Club »Welitsch« liegt inmitten der schönen und gut bewachten Ferienhaussiedlung Odinzowo nahe Moskau. Vom Krieg, den Russland gegen die Ukraine nun schon fast zwei Jahre führt, war hier nichts zu spüren. Bis zum Mittwoch. Da entdeckte eine Hotelangestellte im Schnee eine blutüberströmte Leiche. Wenig später bestätigte Andryj Jusow, Sprecher des ukrainischen Militärgeheimdienstes (HUR): »Kywa ist erledigt.« Er sei »einer der ekelhaftesten Verräter und Kollaborateure« und seine Tötung sei »gerecht« gewesen. So wie ihm werde es »auch anderen Verrätern« und »Handlangern des Putin-Regimes« ergehen, drohte der Kiewer Geheimdienstmann.

Der mit zwei Schüssen ermordete Illja Kywa war einst Vorsitzender der Sozialistischen Partei der Ukraine, dann ordnete Moskau ihn der Nationalistengruppe »Rechter Sektor« zu. Nach dem Überfall Russlands im Frühjahr 2022 kehrte der Abgeordnete des ukrainischen Parlaments nach Russland »heim«. Von dort aus stellte er sich hinter Moskaus Versuch, »die Ukraine von westlicher Okkupation zu befreien«. Das ukrainische Parlament entzog dem kräftig gebauten Mittvierziger das Mandat, ein Gericht in Lwiw verurteilte ihn in Abwesenheit wegen Landesverrats zu 14 Jahren Haft. Die hat der HUR nun kurzerhand in eine Todesstrafe gewandelt.

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Hochrangiger ukrainischer Drogenring?

Warum jetzt? Experten verweisen auf ein Interview, das Kywa, der bei der ukrainischen Nationalpolizei für kurze Zeit die Abteilung zur Bekämpfung der Drogenkriminalität geleitet hatte, zwei Wochen vor seiner Ermordung der russischen Tageszeitung »Iswestija« gegeben hat. Dabei ging es um Aktivitäten des sogenannten Chimprom-Drogenkartells. Die kriminelle Vereinigung produziere seit mehreren Jahren große Mengen synthetischer Drogen, die auch auf dem Gebiet der EU und in der GUS vertrieben werden. Mitarbeiter des GUR-Sicherheitsdienstes und des Parlaments seien direkt daran beteiligt. Mit von der Partie seien der Chef des Militärgeheimdienstes, Kyrylo Budanow, Vize-Innenminister Oleksandr Hogilaschwili und Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko, dem Kywa zudem vorwarf, ein Netzwerk von Bordellen zu unterhalten.

Sind die Beschuldigungen nur Teil von Moskaus psychologischer Kriegsführung? Wie auch immer, Kywas Ermordung reiht sich ein in eine Serie von Anschlägen. Auch wenn man die allerorts agile organisierte Kriminalität nie ausblenden darf, so scheinen die ukrainischen Geheimdienste aktuell gerade sehr agil hinter den feindlichen Linien. Im Osten der Ukraine wurde gerade ein Mann namens Oleh Popow umgebracht – er war Abgeordneter im moskautreuen Regionalparlament von Luhansk.

Anschläge mit psychologischer Wirkung

Oleksandr Slisarenko, ehemaliger Vizechef der von Russland eingesetzten Verwaltung in der besetzten Region Charkiw, starb am 16. November, als sein Auto im russischen Belgorod explodierte. Ende Oktober wurde auf Oleh Zarjow, einen Ex-Abgeordneten der ukrainischen Werchowna Rada, geschossen. In Jalta nahm man den Chef der sogenannten Saporoschje-Bewegung »Wir sind mit Russland«, Wladimir Rogow, ins Visier. Im Mai zündete jemand zwei Kilo TNT unter dem Auto des Schriftstellers Sachar Prilepin. Im März 2023 wurde ein Attentat auf den Anführer der Zarengrad-Gruppe, Konstantin Malofejew, vereitelt; einen knappen Monat darauf sprengte man den einstigen Kämpfer des Donbass-Bataillons Wostok und späteren Militärblogger Wladlen Tatarskij (Maxim Fomin) in einem St. Petersburger Café in die Luft.

Selbst wenn einige Zielpersonen überleben, die psychologische Wirkung ist gewaltig. Unruhe wird auch innerhalb der russischen Abwehr selbst erzeugt. So berichtete die »Kyiv Post« unlängst, dass vier FSB-Leute von Russlands Inlandsgeheimdienst FSB in einer Melitopoler Gaststätte mit Arsen von »Partisanen« vergiftet wurden. Nur einer überlebte. Im Vergleich zum vergangenen Jahr haben die Meldungen über erfolgreiche Abwehroperationen des FSB und anderer russischer Dienste abgenommen.

Kiew will Widerstandsgeist stärken

Auch wenn sich die Ukraine nicht zum Anschlag auf die Nordstream-Erdgasleitungen bekennen mag: Im Vergleich zu den russischen »Kollegen« treten die Agenten Kiews selbstbewusst auf. So sendete der ukrainischen Fernsehsender 1+1 jüngst eine Dokumentation unter dem Titel »Special Operations for Victory«. Zum Inhalt gehörten Videoaufnahmen von zwei erfolgreichen Attacken auf die Brücke von Kertsch. Sie ist nicht nur ein Prestigeobjekt des russischen Präsidenten Wladimir Putin, sondern eine Lebensader für die Krim, denn sie verbindet russisches Hinterland mit der annektierten Halbinsel, die immer öfter zum Angriffsziel der Ukraine wird.

Mit solchen medialen Selbstdarstellungen versucht Kiew nicht nur den offenbar bröckelnden Widerstandsgeist der eigenen Bevölkerung zu stärken. Auch »jeder Russe mit einem Smartphone ist unser bester Freund, Kamerad und Kunde«, betonte ein Spionageabwehroffizier in dem TV-Beitrag.

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