Al-Sisi wird sein eigener Nachfolger als ägyptischer Präsident

Die Ägypter haben ihre Stimme für den künftigen Präsidenten unter Eindruck des Gaza-Kriegs abgegeben

  • Mirco Keilberth, Kairo
  • Lesedauer: 5 Min.

»Ich habe keine Zeit, mich mit Politik zu beschäftigen.« Gemüsehändler Anwar Derani antwortet im Vorbeigehen auf die Frage nach den Ergebnissen der Präsidentschaftswahl in Ägypten. Seit dem Morgen kursieren die eigentlich erst für Montag angekündigten Ergebnisse durch die sozialen Medien des 110-Millionen-Einwohnerlandes. Demnach entfallen auf den amtierenden Präsidenten Abdel Fattah Al-Sisi 96,2 Prozent der Stimmen. »Ich kenne nicht einmal die Namen der anderen drei Kandidaten«, sagt Derani, als er seinen verbeulten Verkaufswagen stoppt, weil der Fragesteller Orangen aus dem Nildelta kaufen möchte. »Machen Sie schnell«, sagt er, »die Beamten verjagen mich gleich wieder. Wissen Sie, die Demokratie, die hier 2010 auf dem Tahrir-Platz begann, hieß für mich höhere Preise und Chaos. Daher ist es mir egal, wer hier das Sagen hat.« Es scheint, als wolle er noch etwas sagen, aber dann fällt sein Blick auf einen Polizisten in Zivil, der ein paar Meter weiter an einer Ampel lehnt und uns fixiert. Wortlos schiebt er das alte Fahrrad mit Verkaufsplattform weiter.

So gleichgültig wie Anwar Derani haben viele Ägypter die Bekanntgabe der ersten Ergebnisse aufgenommen. Auch wenn Al-Sisi als Gewinner schon feststeht – bis zum Montag werden die Stimmen aus allen Ecken des Landes in lokalen Wahlzentren gesammelt und gezählt. Das aus ungeklärten Quellen an die Öffentlichkeit gelangte vorläufige Wahlergebnis wird von kaum einem der Angesprochenen in Zweifel gezogen. Doch da unabhängige Wahlbeobachter nicht zugelassen waren, sind selbst Aussagen über die Wahlbeteiligung reine Spekulation. Rund um den Tahrir-Platz schienen die Schlangen vor den Ständen der Straßenhändler länger zu sein als vor den offiziellen Wahllokalen.

In der Öffentlichkeit sprechen möchte niemand hier, wo 2010 die Straßenprotest des sogenannten Arabischen Frühlings die Welt bewegten. »Sagen Sie als Europäer mir doch einmal, warum Sie hier bei uns Demokratie und Menschenrechte einfordern, aber dem Massaker an mehr als zwei Millionen Palästinensern kaltblütig zusehen.« Die Antwort von Nafi Al-Hawary, Medizinstudent aus Alexandria, gibt wieder, was viele Ägypter auf sozialen Medien schreiben. Al-Hawary macht keinen Hehl daraus, dass er mit der aktuellen Wirtschaftslage unzufrieden ist. »Ich kann mir einmal im Monat die Fahrt nach Hause erlauben und lebe von der Hand in den Mund«, sagt er und dreht sich um, um zu schauen, ob jemand zuhört.

Die kommende, dritte Amtszeit Präsident Al-Sisis wird von einer Welle der Repression eingeläutet. Der ehemalige Abgeordnete Ahmed Al-Tantawi, der wohl prominenteste Herausforderer von Al-Sisi, beendete seine Wahlkampfkampagne im Oktober: Seine Anhänger seien daran gehindert worden, ihre Unterschrift zur Unterstützung seiner Kandidatur registrieren zu lassen. Ägyptens Nationale Wahlbehörde dementierte seine Behauptungen, wie staatliche Medien berichteten.

Seit die letzte Demonstration gegen die israelische Bombardierung des Gazastreifens von einigen Hundert Regimekritikern in Proteste gegen die Wirtschaftskrise im Land umgemünzt wurde, sind Menschenansammlungen verboten. Auf allen öffentlichen Plätzen in der Hauptstadt stehen Männer in Zivil, offensichtlich Mitarbeiter des Innenministeriums.

»Meinungsäußerungen jeder Art sind in Ägypten derzeit unerwünscht. Denn falls Israels Nationalisten ihren Plan umsetzen und die Palästinenser aus dem Gazastreifen auf die ägyptische Sinai-Halbinsel vertreiben, dann ist Al-Sisis Macht in Gefahr.« Die Lageanalyse stammt von Ahmed, der für westliche Wahlbeobachtermissionen an bereits mehr als 20 Wahlen als Rechtsexperte teilgenommen hat. Seinen Nachnamen möchte er nicht gedruckt sehen. In Kairo ist er zurzeit nur auf Privatbesuch. »Glauben Sie mir, hier wurde in den letzten Jahren eine Bibel für die Abhaltung von Wahlen in nicht demokratischen Systemen geschrieben«, lacht der 38-Jährige. »Rechtlich ist die Wahl einwandfrei, so viel kann man sagen. Aber alles andere – schauen Sie sich um!«

Auf dem Tahrir-Platz sind wie überall im Land nur Plakate des amtierenden Präsidenten zu sehen. Der 69-jährige Abdel Fattah Al-Sisi hat zwei Monate lang eine Pause in der Kritik westlicher Verbündeter an seiner autoritären Herrschaft und dem verschärften Vorgehen gegen Andersdenkende genossen, sagen Experten. Er habe vom Krieg zwischen Israel und der Hamas profitieren können, da Ägypten als Mittler auf dem internationalen diplomatischen Parkett wichtig sei.

Seit Beginn des Krieges haben mehrere hochrangige westliche Beamte Al-Sisi besucht, darunter der Außenminister der Vereinigten Staaten Antony Blinken, die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen, der britische Premierminister Rishi Sunak und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz.

»Als die israelisch-palästinensische Frage in vielen Politikbereichen an Bedeutung verlor, was eindeutig ein grundlegend falscher Ansatz war, nahm auch das geopolitische Gewicht Kairos ab«, sagt H. A. Hellyer, Non-Resident Scholar beim US-Thinktank Carnegie Endowment for International Peace in London und fügt hinzu, dass mit der Rückkehr der palästinensischen Frage in den Mittelpunkt der Diskussionen »international eine neue Priorität für gute und umfassende Kontakte mit Ägypten besteht«.

Ägypten kontrolliert den Grenzübergang Rafah, die einzige verbliebene Verbindung zwischen dem von der Hamas kontrollierten Gazastreifen und der Außenwelt. Ägyptische Beamte haben in früheren Kriegen zwischen Israel und der Hamas vermittelt, da Kairo diplomatische Beziehungen zu beiden Seiten unterhält. Während des laufenden Konflikts wurden Ägyptens Dienste in Anspruch genommen, um Hilfsgüter in den Gazastreifen zu liefern und die Freilassung von Geiseln zu erwirken. Präsident Al-Sisi habe die letzten zwei Monate damit verbracht, seine internationalen Partner daran zu erinnern, wie »lebenswichtig« er sei, sagt ein politischer Analyst. Das sehen die Ägypter offenbar auch so: Auf TV-Bildschirmen in Cafés und auf den Handys der Gäste laufen ausschließlich Videos aus Gaza.

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