Pflegenotstand - Blick in den Abgrund

Ein Insider der Pflege packt aus und macht bedenkenswerte Vorschläge

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 3 Min.

Unhaltbare Zustände in Pflegeheimen sind ein Dauerbrenner in den Medien des Landes. Mal stehen unhygienische Verhältnisse im Blickpunkt, mal die Eigenanteile der Bewohner, mal die schlechte Bezahlung der Pflegekräfte, und schließlich die hilflosen Versuche der Politik, das System auf Vordermann zu bringen.

Kaspar Pfister ist ein erfahrener Mann. Der 67-Jährige hat 19 Jahre als kommunaler Verwaltungsbeamter gearbeitet, ehe er 2004 sein Familienunternehmen BeneVit gründete: 2000 Mitarbeiter in 30 Altenpflegeeinrichtungen, verteilt auf mehrere Bundesländer. Seniorenheime will er sie nicht nennen. Die haben ihm einen zu schlechten Ruf. Lieber Wohngemeinschaften, in denen alle Frauen und Männer nach ihren Fähigkeiten mithelfen können, den Alltag zu gestalten und sich trotz der Beeinträchtigungen ein erfülltes Leben zu organisieren.

Wer jemals eine Angehörige in einer Pflegeeinrichtung hatte, weiß, wie weit entfernt dieser Anspruch von der Wirklichkeit ist. Auch Pfister hat erfahren müssen, wie seine besten Ideen von der Bürokratie zerpflückt wurden. Eine offene Küche, in der alle Bewohnerinnen gemeinsam für das Mittagessen Gemüse schnippeln oder Fleisch zerteilen? Um Gottes Willen, hieß es da auf Seiten der Behörden. Es könnte etwas passieren, wenn alte, behinderte Menschen mit Messern hantieren. Außerdem sei das viel zu teuer. Die Wäsche selbst waschen? Da könne die Hygiene nicht gewährleistet werden. Stambulante Versorgung? Auch schwierig. Die Wortschöpfung beschreibt treffend die Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung. Pfister hat sie sich ausgedacht, weil er der Meinung ist, dass es mit mehr Geld und mehr Personal allein nicht zu schaffen sei, die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen. Es bedürfe neuer Konzepte.

Ausschließliche ambulante Versorgung der Bedürftigen in den eigenen vier Wänden sei zudem viel teurer als im Heim oder der Wohngemeinschaft. Darüber hinaus kann er die positive Wirkung eines Heimaufenthaltes auch belegen. Bei vielen Bewohnern unter der Obhut von BeneVit verbesserten sich ihre kognitiven und körperlichen Fähigkeiten, in einigen Fällen auch der Pflegegrad. Pfister berichtet, dass er einen Politiker gefragt habe, wie es in der Pflege weitergehen solle, wenn es 2030 eine Anzahl von 5,5 Millionen Pflegebedürftigen geben wird. Der Mann antwortete, das sei ja noch so weit weg. Genau das sei fatal, so Pfister. Man müsse den Pflegeirrweg jetzt beenden.

Pfisters Vorschläge zeugen von Expertise. Er fragt sich, warum in jedem Bundesland ein anderer Personalschlüssel für die Betreuung gilt und es nicht möglich ist, einen Nachtdienst einzusparen, wo er nicht benötigt wird. Und er hätte gern ein weniger kompliziertes Bezahlsystem der Pflegekassen, die in jedem Jahr einen Zuschlag in unterschiedlicher Höhe für den Heimbewohner entrichten. Und warum legen wir Kranken- und Pflegekasse nicht zusammen, fragt Pfister. Zu guter Letzt wünscht er sich eine faire und bundesweit einheitliche Vergütung für alle an der Betreuung alter Menschen Beteiligten: Fachkräfte, Hilfskräfte, Präsenzkräfte, Hausmeister und Angehörige.

Kaspar Pfister: Die Pflegekatastrophe … und wie wir sie durch gute Konzepte in der Altenpflege verhindern können. Ullstein & List, 304 S., geb., 12,99 €.

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