Negative Dialektik des Wunsches

Wünsche können Trauma und Verletzung ausdrücken, sich verkehren oder Herrschaft stabilisieren. Trotzdem geht es auch nicht ohne sie

  • Felix Klopotek
  • Lesedauer: 7 Min.
Graben zwischen Wunsch und Wirklichkeit: Der Aufstand für bessere Arbeitsbedingungen endet in Gewalt. Szene aus einem Stummfilm über den »Petersburger Blutsonntag« 1905.
Graben zwischen Wunsch und Wirklichkeit: Der Aufstand für bessere Arbeitsbedingungen endet in Gewalt. Szene aus einem Stummfilm über den »Petersburger Blutsonntag« 1905.

Noch vor der Wiedervereinigung, 1990, erschien bei Reclam Leipzig ein Sammelband mit Texten von Thomas Brasch: »Drei Wünsche, sagte der Golem«. 1976 hatte Brasch, halb freiwillig, halb unter Druck gesetzt, die DDR verlassen, was auf beiden Seiten einiges an Verbitterung hinterließ. Der Sammelband schloss einen Prozess der Rehabilitierung des Autors ab, der sich schon die Jahre zuvor zaghaft angebahnt hatte. Das Buch erschien freilich zu spät, um in der DDR – und vor allem: für die DDR – noch irgendeine Wirkung zu erzielen. Wäre es nur ein Jahr früher erschienen, hätte allein der Titel für einen Skandal gesorgt.

Denn das titelgebende Gedicht Braschs enthält einen Vernichtungswunsch, spricht vom Tod und dem trostlosen Weiterleben, nichts, was ins zwangsoptimistische Bild des Staatssozialismus gepasst hätte. »Drei Wünsche, sagte der Golem«, wohlan, der erste: »Mit den Toten nach Hause, antwortete ich,/ am Nachmittag über die Warschauer Brücke./ Wenn neben der Sonne der schwarze Mond aufgeht/ zeige ich ihnen in ihrer Republik die Lücke.« Der zweite: »Auf einer Atombombe über dem Bahnhof Frankfurt, antwortete ich,/ wie still ist das hier im siebten Himmel./ Nur der Wind und der Gestank der Demokratie:/ Lachend falle ich nieder auf das Gewimmel.« Und der dritte: »In einem zerstörten Haus wohnen, antwortete ich,/ allein in einer verwüsteten Landschaft,/ in zerbrochene Ziegel Briefe gekratzt/ an meine tote Verwandtschaft.« Thomas Brasch war der Sohn geflüchteter Juden, 1945 im englischen Exil geboren.

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Dass Wünsche nichts Harmloses sind, sich in ihnen etwas aufspeichert, was von Traumata, Verletzungen, historischem Unrecht spricht und den falschen Frieden der Gegenwart infrage stellt, das wird in »Drei Wünsche, sagte der Golem« offen ausgesprochen. Auch die Verzweiflung, die damit verbunden ist. Denn Agent der Wünsche ist eine legendäre jüdische Sagengestalt. Der Golem ist eine aus Lehm geformte Tötungsmaschine, die keinen eigenen Willen hat, sondern allein auf ihren Schöpfer hört. Größer könnte der Kontrast zu einer Arbeiterklasse, die sich ihrer Lage bewusst würde und überlegt und kraftvoll in den verheerenden Lauf der Dinge eingriffe, um ihn zum Besseren zu wenden, nicht sein. Von dieser Arbeiterklasse mochte der Anarchist Thomas Brasch 1980, das Jahr, in dem das Gedicht erstmals erschien, nicht (mehr) reden.

Die fürchterlichen Wünsche

Wünsche können sardonisch sein und verweisen dann auf die Einsamkeit oder Verlorenheit der sie Aussprechenden. Sie können auch einen Schrecken auslösen. Der Urheber der folgenden Geschichte ist dem Autor nicht mehr erinnerlich, sie stammt aus einem Jugendbuch und hat für jahrelangen Grusel gesorgt: Ein dienstbarer Geist stellt einem Ehepaar drei Wünsche frei – meistens sind es ja drei Wünsche. Sie wünschen sich als erstes materielle Sicherheit, Wohlstand. Wenig später klingelt der Justiziar der Firma, wo ihr Sohn am Fließband steht, an der Tür. Ihr Sohn ist bei einem Arbeitsunfall zerquetscht worden, die Firma ist bereit, eine hohe Entschädigungssumme zu zahlen. Die Frau, halb wahnsinnig vor Trauer, spricht den zweiten Wunsch aus – der Sohn möge zurückkehren. Nachts hören die beiden Alten, wie jemand die Treppen hochschlurft. Der Mann ahnt, wie der, der da kommt, aussehen wird. Es bleibt nur noch der letzte Wunsch, dass der Sohn verschwinde. Am Ende ist ihnen gar nichts geblieben. Die Naivität, ja Unschuld des Wünschens, verkehrt sich in ihr Gegenteil. Daher der Schrecken.

Der Schrecken verweist auf den sozialen Charakter des Wunsches. Denn der Wunsch entfaltet sich erst in der Konfrontation mit der Realität, es reicht nicht, ihn auszusprechen, sondern er muss umgesetzt werden. Und das ist der Moment, wo der Wunsch nicht mehr die Wünschenden allein betrifft, sondern an Instanzen delegiert wird, die den Wunsch nach ihrem Maßstab interpretieren. In einer Welt, in der die Wünschenden in der Regel die sind, die am wenigsten haben (deshalb wünschen sie sich ja etwas), weil sie für den Reichtum anderer arbeiten, werden ihre Wünsche so eingepasst, dass sie dieses Verhältnis nicht aufbrechen, sondern zuverlässig bestätigen und es aufrechterhalten.

Wer den Sozialstaat wünscht, kriegt ein bürokratisches Monster, das Wohlfahrt zur Kontrolle und Disziplinierung der von ihm Abhängigen einsetzt. Wohlfahrt ist ein Mittel der Ertüchtigung der Arbeitslosen, der industriellen Reservearmee, die sich fit halten muss, wenn sie beim nächsten Aufschwung wieder in den Büros, Lagern und Fabriken gebraucht wird. Oder sie ist ein Mittel, die Löhne niedrig zu halten: Wenn Leute auf Sozialstaatsleistungen angewiesen bleiben, weil ihr Job eben nicht genügend Lohn abwirft. Wer dagegen Freiheit wünscht, kriegt Deregulierung, Privatisierung, öffentliche Räume, in denen das Recht des Stärkeren gilt. »Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden«, heißt es bei Goethe. In der Gesellschaft der kapitalistischen Produktionsweise, in der die Fähigkeiten eines jeden direkt mit seiner oder ihrer Arbeitskraft verbunden sind, ist das eine Drohung. Was wir zu leisten imstande sein werden, wird durch die Höhe der Ausbeutungsrate bestimmt.

Man muss nicht so hoch greifen, die negative Dialektik des Wunsches bewährt sich in ihrer ganzen Boshaftigkeit im Alltag: Wer sich weiße Weihnachten wünscht, kriegt tödliche Autounfälle auf vereisten Straßen und erfrorene Obdachlose am Straßenrand. Wer sich, nach Generationen der Armut, täglich eine Fleischmahlzeit wünscht, kriegt eine Klimakatastrophe und zuvor eine Herzkrankheit. Wer sich die deutsche Fußballnationalmannschaft als Europameister wünscht, kriegt den nationalistischen Taumel nach dem Sieg.

Also gar keine Wünsche mehr?!

Aber es gibt doch einen Haufen Wünsche, die wirklich ganz und gar unschuldig sind, mag man einwenden, weil es schlicht keine Instanz gibt, die sie umsetzen könnte. Bleiben wir beim Fußball und sagen: Union Berlin soll es noch einmal in die Champions League schaffen! Wünsche dieser Art sollen sich vielleicht gar nicht realisieren (es ist sattsam bekannt, dass kleinere Fußball-Vereine, die überraschenden Erfolg haben, mit der Belastung, in mehreren Wettbewerben zu spielen, nicht zurecht kommen und in der folgenden Saison gegen den Abstieg spielen), sondern sie stiften eine nostalgische Welt, die Illusion eines Bereichs, der nicht mit dem Staub und Schmutz der tatsächlichen Welt in Kontakt kommt. In diesem Fall besteht die negative Dialektik des Wunsches in der Realitätsflucht, die die herrschende Realität nur bekräftigt. Denn sie ist es, die unangreifbar bleibt, unverrückbar, unveränderlich.

Also gar keine Wünsche mehr?! »Die Zeit der Forderungen ist vorbei«, lautet denn auch der Untertitel eines 2009 erschienenen Sammelbandes über die Unruhen in den französischen Banlieues, die bis heute nicht abgeflaut sind. Die Forderung ist der politisch gewordene Wunsch, seine Übersetzung in die Sprache von Parteiprogrammen und Regierungskoalitionen. Wenn die Zeit der Forderungen vorbei ist, heißt das, dass der Staat und seine Organe keine Adressaten mehr sind, dass Politik nicht länger ein gesellschaftliches Feld der Kompromisse – immer zu Ungunsten der Arbeiterinnen und Arbeiter, der Prekären und Subalternen – ist. Sie sind vielmehr ein Hindernis, das es zu überwinden gilt, ohne dass jemand um Erlaubnis gebeten hätte.

Dann beginnt, hätte man vor fünfzig Jahren gesagt, die Zeit der Autonomie. Aber bloß weil man behauptet, dass die Zeit der Forderungen vorbei ist, heißt das noch lange nicht, dass die Forderungen und Wünsche verschwunden wären. Der Wunsch nach sozialer Sicherheit, nach Arbeitsverhältnissen, die einen nicht kaputtmachen, nach guter Bildung für die Kinder: Das alles besteht weiter. Auch der »autonome« Klassenkampf wird sich an diesen Wünschen – mal mehr, mal weniger bewusst – orientieren müssen. Der Sprung, wenn man das Fordern sein lässt und sich nur noch auf sich selbst verlässt, in eine Welt ungezügelter Radikalität gehört selbst in die Kategorie der realitätsfernen Wünsche, die Trugbilder produzieren. In Wirklichkeit bleiben die Vorstellungswelt der Leute und damit das Reich ihrer Wünsche und Sehnsüchte an das gekettet, was der Kapitalismus mit seinen Konsumwelten, Luxusversprechen und Heilspredigern als Norm setzt.

Den Wünschen Beachtung zu schenken – auch den eigenen –, und seien sie noch so mickrig, sollte deshalb an erster Stelle für alle Aktivist*innen, Militanten und Radikalen stehen. Denn manchmal geraten die Wünsche in Konflikt mit der Obrigkeit, die in einer tieferen Krise steckt, als wir ahnen, und nicht mehr in der Lage ist, sie in ein konformes Programm umzuschmelzen. Legendär jener Sonntag im Januar 1905 in Petersburg, als 150 000 arme Leute sich zum Winterpalast aufmachten, Bilder des Zaren vor sich hertrugen und sich nichts sehnlicher wünschten, als dass der gute Vater ihren Bitten nach einer humaneren Fabrikgesetzgebung nachkäme. Der aber geriet vor lauter Zuneigung in Panik und ließ die Demonstration niederschießen. Es löste die erste russische Revolution aus. Das Wünschen hatte auch damals nicht geholfen – das Abschlagen der Wünsche aber auch nicht.

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