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Medizinische Erfolge für Millionen

Von Abnehmspritzen, Malariaimpfstoffen, schwächelnden Meeresströmungen und dem Siegeszug der Künstlichen Intelligenz

Jedes Jahr im Dezember kürt das renommierte Fachjournal »Science« die wissenschaftlichen Durchbrüche des Jahres. Diese Liste enthält Forschungserfolge, etwa aus der Medizin, der Klimaforschung, der Informatik, Paläoanthropologie und Astronomie. Ein genauerer Blick auf vier davon:

Spritzen gegen Adipositas

Der wissenschaftliche Durchbruch des Jahres 2023 ist dem Urteil von »Science« zufolge die neue Abnehmspritze, die unter dem Namen »Wegovy« vertrieben wird. Das Medikament bietet Hoffnung für Millionen von adipösen Menschen weltweit. Die britische Zeitung »The Guardian« spricht von 650 Millionen, deren Body-Mass-Index 30 oder höher beträgt. In den USA sind rund 70 Prozent der Bevölkerung übergewichtig. Starkes Übergewicht gilt als Risikofaktor für eine ganze Reihe von Krankheiten wie Diabetes Typ2, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Fettleber und bestimmte Arten von Krebs.

Das neue Medikament, das ursprünglich zur Behandlung von Diabetes entwickelt wurde, könnte helfen, die Vorurteile gegenüber von Adipositas betroffenen Menschen zu überwinden, denn gerne wird das Abnehmen zu einer reinen Frage des Willens erklärt, beziehungsweise, wenn es nicht gelingen will, wird dieses mit einer Willensschwäche der Patient*innen gleichgesetzt. Der Wirkstoff der Spritze heißt Semaglutid und imitiert das Darm-Hormon GLP1. Dieses erhöht die Insulinausschüttung der Bauchspeicheldrüse nach der Nahrungsaufnahme, was im unter dem Namen »Ozempic« vermarkteten Semaglutid-Präparat dem Diabetes entgegenwirken soll. Außerdem soll »Wegovy« das Sättigungsgefühl steigern.

Nun gibt es wohl kein Medikament ohne Nebenwirkung, und dies trifft auch auf die Semaglutid-Spritzen zu. An unerwünschten Effekten wurden bislang Übelkeit, Kopfschmerzen, Müdigkeit und auch ein mögliches Risiko für Schilddrüsenkrebs festgestellt. Und die Abnehmspritze bietet wohl bei kurzzeitiger Anwendung auch keine Heilung für alle Zeiten. Ein Jahr nach Therapieende hatten in einer Studie Patient*innen zwei Drittel des verlorenen Körpergewichts zurückgewonnen, wie »Science« berichtet. Dies bestätige diejenigen Wissenschaftler*innen, die Adipositas einen chronischen Charakter zuschreiben – eine dauerhafte medikamentöse Behandlung wäre demnach nötig.

Medikamente gegen Adipositas sind, genauso wie gegen Diabetes, ein gigantischer Markt mit Wachstumspotenzial, inklusive eines gewinnversprechenden Schwarzmarkts. So kam es in Österreich zu medizinischen Notfällen, weil Menschen gefälschtes Ozempic gespritzt hatten. Und da das Abnehmen nicht nur der Wunsch von Adipositas-Patient*innen ist, sondern auch vieler Menschen, die nur einem allgemeinen Körperideal folgen wollen, dürfte auch hier, ohne ärztliche Verschreibung, eine hohe Nachfrage entstehen. Problematisch ist dies vor allem für Diabetiker*innen, da dies zur Verknappung auch von Ozempic führen kann.

Impfungen gegen Malaria wirken

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Während mit der Abnehmspritze eine der großen Zivilisationskrankheiten bekämpft werden kann, birgt die Entwicklung eines neuen Malariaimpfstoffs Hoffnung vor allem für Millionen von Babys und Kleinkindern. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts erkranken 200 Millionen Menschen pro Jahr an Malaria, 600 000 sterben daran, 500 000 davon sind laut Unicef Kinder. Daher sind es auch die Jüngsten, die die ersten Impfungen mit nun einem zweiten von der Weltgesundheitsorganisation WHO empfohlenen Impfstoff namens R21/MatrixM erhalten sollen. Seit 2019 wurde zunächst in einer Pilotphase mit dem Vakzin Mosquirix, auch RTS,S genannt, geimpft. Zwei Millionen Babys und Kleinkinder in Ghana, Kenia und Malawi erhielten den Stoff im Rahmen der Pilotstudie der WHO. Die Todesfälle in den Pilotregionen sanken laut WHO um 30 Prozent. Mosquirix wurde 2021 für die breite Anwendung empfohlen.

Nur sind die Produktionskapazitäten des Herstellers Glaxosmithkline bislang beschränkt, wie »Science« berichtet. 18 Millionen Dosen könnten bis 2025 produziert werden. Da jedes Kind vier Dosen erhalten muss, reiche dies aber nur für 4,5 Millionen von den 40 Millionen, die jährlich in Malariagebieten geboren werden. Dass in diesem Jahr ein zweiter Malariaimpfstoff empfohlen werden konnte, kommt da gerade recht. Das Vakzin R21 war in einer Phase-3-Studie 4800 Kindern verabreicht worden und zeigte sich in den ersten 18 Monaten ebenso wirksam wie Mosquirix. Erfreulich ist auch, dass das von der Universität Oxford entwickelte R21 billiger und in größeren Mengen hergestellt werden kann als Mosquirix. Das Serum Institute of India will nun 100 Millionen Impfdosen pro Jahr zu einem Preis zwischen zwei und vier Dollar produzieren.

Die Malariaimpfung, von »Science« ebenfalls unter den wissenschaftlichen Erfolgen des Jahres platziert, hat Potenzial, Hunderttausende von Menschenleben zu retten. Erfreulich ist auch, dass hier der medizinische Nutzen im Vordergrund steht, während die potenzielle Gewinnmarge wohl eher gering bleibt.

Die Zirkulation der Meere

Offiziell bestätigt ist es noch nicht, aber 2023 wird aller Voraussicht nach das global wärmste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Die Klimaberichterstattung war vor allem geprägt von Temperaturrekorden an Land und auf dem Meer. Die Klimaforschung lieferte weitere interessante und nicht minder beunruhigende Beobachtungen. »Science« hebt in seiner Liste der wissenschaftlichen Durchbrüche die Erkenntnis hervor, dass sich die Zirkulation im südlichen Ozean deutlich abgeschwächt hat. Diese ist Teil eines globalen Strömungssystems, auch als globales Förderband bekannt. »Wenn die Ozeane der Welt ein Herz hätten, so läge es im Südlichen Ozean«, schreibt Paul Voosen in »Science«. Vor den Küsten der Antarktis wird salzhaltiges Wasser in die Meerestiefe gezogen und mit ihm Wärme, Sauerstoff und Kohlendioxid. Die antarktische Umwälzpumpe hilft, Kohlendioxid dauerhaft im Meer zu speichern, wenn sie schwächelt, könnte der Ozean umgekehrt weniger Kohlenstoff aus der Luft aufnehmen als bisher, was die Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre schneller steigen ließe. Leider gibt es für die Antarktis nur wenig historische Messdaten. Die wenigen, die von Schiffen geliefert wurden, speisten Wissenschaftler*innen der NOAA in ein Klimamodell ein und kamen zu dem Schluss, dass sich die Zirkulation im südlichen Ozean um bis zu 20 Prozent abgeschwächt hat. Australische Forscher*innen berichteten im Mai im Journal »Nature Climate Change«, dass die Zirkulation in der Tiefe der Antarktis zwischen 1992 und 2017 um fast 30 Prozent abgenommen hat. Ursache ist wahrscheinlich das Abschmelzen der antarktischen Eisschilde. So wird dem Meer von oben Süßwasser zugeführt, wodurch die oberen Schichten weniger salzig sind und daher eine geringere Dichte haben. Das Oberflächenwasser kann daher schlechter in die Tiefe absinken, wodurch die gesamte globale Umwälzzirkulation geschwächt wird. Bis zum Jahr 2050 könnte sich die Umwälzbewegung in die Tiefe um 40 Prozent verlangsamen, berechnete ein Forschungsteam um Matthew England von der australischen University of New South Wales. Dies hätte Folgen für die Verteilung von Wärme, Süßwasser, Sauerstoff, Kohlenstoff und Nährstoffen in den Ozeanen. Und damit für alles Leben im Meer. Die Tiefenzirkulation im Südlichen Ozean verdient daher in Zukunft viel mehr Aufmerksamkeit.

Wettervorhersagen mit KI

Wenn im Jahr 2023 von Künstlicher Intelligenz (KI) die Rede war, dann war meistens das Programm Chat GPT nicht weit, ein sogenanntes großes Sprachmodell, das auf alle möglichen Fragen halbwegs intelligent erscheinende, wenn auch nicht immer richtige Antworten zu geben vermag. Künstliche Intelligenz kommt aber auch an ganz anderen Stellen zum Einsatz, als dabei enzyklopädisches Wissen in verständlicher Sprache auszuspucken. Laut »Science« hat die KI im laufenden Jahr erhebliche Fortschritte bei der Wettervorhersage gemacht und zwar für einen Zeitraum von bis zu zehn Tagen im Voraus. Große Konzerne wie Google oder Huawei haben die KI-Modelle trainiert, die nun Prognosen hervorbringen, die ähnlich akurat sind wie diejenigen, die auf traditionellen Wetterberechnungsmodellen basieren. Denn auch ohne KI wird die Wettervorhersage schon lange von Computern berechnet, wobei die Dynamik in der Atmosphäre simuliert wird. KI-Modelle lernen aus den Mustern der Vergangenheit und können – ohne sie zu »verstehen« - Vorhersagen auf der Basis der Erfahrungen der besten numerischen Wettermodelle abgeben. KI kann, wenn sie einmal trainiert ist, ihre Vorhersage innerhalb von einer Minute erstellen, während die herkömmlichen, numerischen Modelle noch immer Stunden und die Kapazitäten von Supercomputern benötigen. Dabei bleibt die Künstliche Intelligenz aber eine Black Box, da niemand genau sagen kann, welche Strukturen sie lernt. Trotzdem wird sie in der alltäglichen Wettervorhersage Einzug halten. Wenn sich Wettermuster aufgrund des Klimawandels verändern, könnte die KI aber auch manches Mal falsch liegen.

Das Wissenschaftsjahr 2023 hat viele weitere Highlights hervorgebracht, wie etwa den Nachweis einer weitaus früheren menschlichen Einwanderung nach Amerika, über die »nd« berichtete. Oder der Empfang von Gravitationswellen im All mithilfe von Pulsaren, über die ebenfalls auf diesen Seiten zu lesen war.

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