Franz Beckenbauer: Die Lichtgestalt und das Zwielicht

Zum Tod des verehrten Fußballkünstlers und umstrittenen Funktionärs

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.
Ein Leben im Rampenlicht: Franz Beckenbauer
Ein Leben im Rampenlicht: Franz Beckenbauer

Er mochte den Wald. Zu einem Münchner Oktoberfest trug Franz Beckenbauer mal ein Jackett Modell »Fallendes Herbstlaub«. Als Zehnjähriger malte er im Kunstunterricht einen Baum. Dies veranlasste eine Therapeutin später zur Kennzeichnung eines »ehrgeizigen, energievollen Menschen, der gut verdrängen kann, was ihn behindert«. Nichts schien ihn zu behindern. Handicap war ihm nur ein Golf-Begriff. Er hat einfältigste Schlager gesungen, wurde selten im Schweiße seines Angesichts fotografiert, dribbelte perfekt zwischen »Bild«-Kolumne und Buddhismus-Kanon. Beckenbauer blieb lange Jahre ein Daseins-Künstler, dem gelingendes Leben als Hauptberuf anerkannt wurde. Ihm geriet noch jeder Stuss zum Treffer. Der Libero. Der freie Mann. Noch im Funktionsstress ein Ungebundener.

Der 1945 geborene Sohn eines Giesinger Oberpostsekretärs – täglich knallte er den Ball daheim stundenlang gegen die Hauswand – war Vizeweltmeister, Europameister und Weltmeister. Mit dem FC Bayern wurde er Landesmeister, Europapokal- und Weltcupsieger. Wegen ihm ließ sich sogar Pelé überreden, ein bisschen in der US-Operettenliga mitzukicken. 1990, im Jahr der deutschen Einheit, brachte Beckenbauer als Teamchef (eine Trainerlizenz braucht so einer nicht) die Bundeself zu Weltmeister-Ehren. Unvergesslich bleibt, wie er nach dem Spiel still und in sich versunken auf dem Rasen seine Schritte ging, vom Jubel des Stadions unberührt. Die stolze Einsamkeit des Götterlieblings. Ein Moment großen emotionalen Theaters. Als erlaube sich ein Sieger, just im Augenblick des Sieges nicht von dieser Welt zu sein.

Denken und Fühlen bauen seltsame Brücken: Wir sahen im Osten Beckenbauer und dachten an Peter Ducke; so wie wir in den Sechzigern die Thüringer »Polars« hörten und dabei an die britischen »Shadows« dachten. Und umgekehrt. Vergleiche hinken, aber schlagen auch schönste Querpässe.

Beckenbauer bleibt ein Gleichnis – für den Kern von Verehrung: Fanverhalten nämlich ist eine Wildform ekstatischer Genugtuung über jenes gesamte Systemwissen, das die kritische Vernunft in uns aufhäuft. Fußball: Plötzlich ist die Erde wirklich rund. Ist zu einem Abschuss freigegeben, der Leben in die Bude bringt. »Fußball? Unbedingt! Ich will mich jetzt hemmungslos diesen Millionären hingeben, die ja eigentlich ein Hohn auf den sozialen Zustand der Welt sind.« Worte von Eduardo Galeano. Einer der großen linken Denker Lateinamerikas. Was er benennt, ist der Einbruch von unbedenklicher Hingabe – trotz genauer Lagekenntnis. Denn wir wissen doch alles, so wie uns auch im Falle Beckenbauer alles klar war, klar wurde: Fußball ist ein Menschen- und Warenmarkt. Wer zum Beispiel einer Mannschaft (etwa im vielfach benachteiligten Osten) Aufstiege wünscht, wünscht ihr Zugang zum Teufelskreis. Und wünscht doch inniger denn je. An dieser Widersprüchlichkeit scheitert immer wieder der ideologische Moralismus aller Couleur.

Auf dem Feld wirkte Beckenbauer oft allein: zu gut für seine Mitspieler – Qualität hebt, aber hohes Niveau entfernt den Menschen auch von seinesgleichen. Eine Weile hat er versucht, auf dem Boden zu bleiben: Aber seine Grätsch-Karriere war kurz, er war kein Kohler, kein Sühle, kein Hummels. Er schoss hart, meist jedoch tippte er nur an den Ball, der Fuß zuckte kurz. Und er musste nicht auf den Ball schauen, der flog ja in seinem Kopf. Sein auffälliges Warten vor einem Pass war nicht Ratlosigkeit, sondern Technik, es war Dramaturgie, Schürzung des Dramas, lange bevor das Elendswort vom »Umschaltspiel« aufkam.

Beim FC Bayern wurde er Trainer-Nachfolger eines geschassten Freundes (Erich Ribbeck), schließlich Präsident. Der Weg nach oben als dauernder Schubs von außen: Beckenbauer als das sanfteste Phlegma dieser Welt. Das Geschäft als berückende Freundlichkeit; das Kalkül als Ausbund von Grazie. Der Mitsubishi-Verkäufer und Stiftungschef gestand: »Eigentlich habe ich nie etwas Richtiges gemacht.« Wie sagte Brecht? Es geht auch anders, aber so geht es auch. Beckenbauer war der Mann, wegen dem Philosoph Martin Heidegger sich heimlich, bei einem seiner Schüler, die »Sportschau« anschaute.

Beckenbauer erschien mehr und mehr als graumelierter Alien des deutschen Wohlstandsmodells, das sich lange Zeit, über den Zenit hinaus, als eine Erbschaft von Erfolg und Leistung und Intelligenz verstand, eine Erbschaft, die kräftig ausgegeben wurde, selbst dann, als sie längst nicht mehr vorhanden war. Im weltweiten Beliebtheitsrausch bewahrte er sich stets ein bemerkenswertes Maß Zurückhaltung, aber es rettete ihn nicht vorm Unglück: geldgeschmierter Geschmeidigkeit, rhetorischer Fahrlässigkeit (wie in Bezug auf die Verhältnisse in Katar) und letztlich einem bösen Versinken im millionenschweren Fifa-Filz. Was bleibt trotzdem: Er holte 2006 die WM nach Deutschland, und das sportliche Aufblühen der Deutschen steigerte sich zum heiteren Signal: dass von überbordenden Nationalflaggen einfach nur ein Zeichen der Lust und Leichtigkeit ausgehen kann.

Während des WM-Turniers 1990 war der deutsch-deutsche Staatsvertrag ratifiziert worden, und die Grüne Antje Vollmer erklärte: »Wer den deutschen Fußballern in diesen Tagen zuschaut, der verliert, wie auch ich, die Angst vor den Deutschen. Sie spielen nicht nur gut und erfolgreich; sie spielen auch irgendwie schön.« So klug kann man politisch reden. Und so vergänglich. Beckenbauer hatte nach dem Sieg hinausposaunt: »Zusammen mit den Ostdeutschen werden wir auf Jahre hinaus nicht mehr zu besiegen sein; es tut mir leid für den Rest der Welt, aber es ist leider so.« Es wurde nicht so.

Den Abpfiff überlebt niemand: Franz Beckenbauer, gestorben mit 78 in Salzburg. Einsam, gewiss enttäuscht – wie sehr von der Welt, wie sehr von sich selbst? Er bleibt Star jener Kunst, bei der Sport und Ästhetik weit enger zusammengedacht werden dürfen, als landläufig erlaubt. Träumen wir daher im Moment der Trauer, für einen Moment und der Zukunft willen, noch einmal von jenem Beckenbauer-Format. Das schöne Spiel als Mittel zum Zwecke des Sieges? Nein – möge der Zweck, zu gewinnen, ein schönes Spiel erschaffen! Fußball sagen, aber das Leben, die Gesellschaft meinen. Beckenbauers Ästhetik regt an zu solchem Übermut des Gedankens.

Auch das darf man doch Fortschritt nennen: dass in Deutschland ein Mann umjubelt »Kaiser« genannt wird, weil er anderen mit erhobenem Kopf davonlief. Jedenfalls auf dem Feld des Spiels.

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