Die Heim-EM im Handball hat begonnen: Oh, wie war das schön!

Deutschland startet mit einem Kantersieg gegen die Schweiz vor Weltrekordkulisse

  • Erik Eggers, Düsseldorf
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Stimmung? »Einfach nur fantastisch«, sagte Timo Kastening und strahlte. Als das Auftaktspiel der deutschen Handballer bei der EURO hinter ihnen lag, berichtete Rechtsaußen von der MT Melsungen lächelnd, bei der Nationalhymne zwar seinen Mund bewegt zu haben. In Wirklichkeit aber blieb er stumm. »Ich habe nicht gesungen, weil ich diese Momente und diese Akustik einfach für mich genießen wollte.«

Genießen konnte das Team von Bundestrainer Alfred Gislason – und das war so nicht erwartet worden – auch die letzten Minuten in der mit 53 586 Zuschauern vollbesetzten Fußballarena in Düsseldorf. »Oh, wie ist das schön«, sangen die euphorisierten Fans auf den Rängen. Tatsächlich hatte der Gastgeber die stark eingeschätzte Schweiz deklassiert, am Ende hieß es 27:14 (13:8). Mit sechs Treffern war Regisseur Juri Knorr, der die Kulisse ebenfalls »einfach nur krass« empfand, bester Torschütze.

»Der Druck war riesig«, sagte Bundestrainer Alfred Gislason, er machte aus seiner Erleichterung keinen Hehl. Nun scheint der Einzug in die Hauptrunde nur noch Formsache, da der nächste Gegner am Sonntag in Berlin, Nordmazedonien, die auf dem Papier leichteste Aufgabe darstellt. Sollte die deutsche Abwehr eine ähnlich homogene Leistung im abschließenden Gruppenspiel gegen den Favoriten Frankreich hinlegen, ist das Team dort ebenfalls keineswegs chancenlos.

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Die deutsche Defensive jedenfalls war perfekt eingestellt auf den Gegner. »Wir haben dem Schweizer Angriff alle Stärken genommen«, freute sich Kapitän Johannes Golla, der mit Julian Köster im Zentrum Beton angemischt hatte. Auch Sebastian Heymann hatte seinen Anteil an der Leistungsexplosion in diesem zentralen Mannschaftsteil, der sich in den letzten Monaten oft porös präsentiert hatte. Ein wenig Unsicherheit sei deshalb vor dem EM-Auftakt dabei gewesen, verriet Golla. »Deswegen war dieses Spiel für uns sehr wichtig.«

Die deutsche Abwehr jedenfalls zerstörte den Angriff der Schweizer, deren Spielmacher Andy Schmid, einer der besten Individualisten des letzten Jahrzehnts, rannte sich immer wieder fest. Dabei agierten die deutschen Verteidiger noch sehr variabel. Sie begannen mit einer aggressiven 3:2:1-Deckung und zogen aber bald in die 6:0-Formation um, zumal die Schweiz es bald mit dem Spiel Sieben gegen Sechs probierte.

Oft genug jedenfalls standen die Schweizer Rückraumspieler enorm unter Druck, Köster etwa blockte in Halbzeit eins bereits zwei Bälle. Torwart Andreas Wolff hatte daher oft keine Mühe, die Würfe zu entschärfen. Auf der anderen Seite aber entmutigte der 32-jährige Keeper vom polnischen Topklub Industria Kielce dann den Gegner völlig, indem er auch die klaren Chancen vereitelte.

Auf diese Weise schuf der Keeper spektakuläre und historisch zu nennende Fangquoten. Als Knorr in der 19. Minute das 9:3 erzielte, verzeichnete Wolff bereits sechs Paraden (Quote 66,6 Prozent), beim Stand von 3:2 fing er gar einen aus zwei Metern abgeworfenen Ball des Schweizer Kreisläufers – die Höchststrafe für den Werfer. In der zweiten Halbzeit blieb die Schweiz einmal über 16 Minuten ohne Treffer. Als Wolff in der 49. Minute seinen Platz für den Jungstar David Späth räumte und gefeiert wurde, lag seine Fangquote bei 61 Prozent – alles über 40 Prozent gilt als Weltklasse. Der Bundestrainer hatte sogar 64 Prozent ausgerechnet.

Insbesondere die jüngeren deutschen Spieler waren geflasht von der dichten Atmosphäre. »Als wir zum Aufwärmen aufs Spielfeld sind, hatte ich Gänsehaut«, berichtete Julian Köster. »Das war so unfassbar«, sagte Linksaußen Lukas Mertens. »Das hätte ich mir so nie erträumen können. Wir hatten uns das vorher so einfach nicht vorstellen können.« Selbst erfahrene Profis wie der Kieler Rune Dahmke waren tief beeindruckt. »Das war das Krankeste, was ich je erlebt habe«, sagte der 30-jährige Linksaußen.

Aber Dahmke mahnte zugleich. So fantastisch der Auftakt gewesen sei, so viel Selbstbewusstsein die Mannschaft auch gewonnen habe, so fern lägen noch die Ziele. Denn auch in der Hauptrunde, für die der Gastgeber dann nach Köln umziehen wird, warten mit voraussichtlich Island, Spanien und Ungarn sehr, sehr starke Gegner. Um das Minimalziel Halbfinale zu realisieren, benötigt die Mannschaft einen langen Atem.

Die mutmaßlich wichtigste Erkenntnis für den Bundestrainer indes war, dass die Qualität auch dann nicht abnahm, wenn er Leistungsträgern wie Golla, Köster und Kai Häfner die nötigen Pausen verschaffte. Noch in den Testspielen gegen Portugal war es hier zu gravierenden Leistungsdellen gekommen. »Wir hatten keinen Bruch im Spiel«, freute sich Gislason nun. Wenn junge Spieler wie die Juniorenweltmeister Justus Fischer oder Renars Uscins sofort Leistung zeigten, »dann ist das extrem wichtig für uns«.

Der erst 20-jährige Kreisläufer Fischer hatte die großen Emotionen genutzt, um sich zu empfehlen für weitere Aufgaben. Auch er war sichtlich bewegt während der Hymne, seine Augen waren feucht. »Der Moment war so groß. Ich hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten«, berichtet er später mit seligem Lächeln. »Ich bin so glücklich, dass ich hier dabei sein darf und dass ich sogar noch Spielzeit bekommen habe.«

Die deutschen Handballer hätten sich das Eröffnungsspiel jedenfalls kaum schöner ausmalen können.

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