Theaterstück »Ultralenz«: Das Gespenst der Polizei

Immer wieder werden in Deutschland psychisch kranke Menschen von der Polizei erschossen. Wie aber ist diese Polizeigewalt zu deuten?

  • Jonathan Dési
  • Lesedauer: 7 Min.

Wer dieser Tage in die Berliner Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz geht, kann dort das Stück »Ultralenz – 70 000 Cops wollen deine Location wissen« sehen, aufgeführt in der Videothek im zweiten Stock des Theaterhauses. Die sehenswerte Inszenierung von Lorenz Nolten und Sofie Boiten, bei der mit einer starken, raumfüllenden Bühnenpräsenz nur Anna K. Seidel auf der Bühne steht, verbindet die Handlung von Georg Büchners Erzählung »Lenz« mit aktuellen Fällen von Polizeigewalt gegen psychisch kranke Menschen und Menschen in psychischen Notsituationen.

Drei Polizeimorde

Immer wieder kommen dabei drei Fälle von Polizeigewalt vor, die im Stück über eine satirische Version der »Tagesschau« eingeblendet werden. Da ist etwa der Fall des Mannes, der im Juni 2013 im Neptunbrunnen am Alexanderplatz von einem Polizisten erschossen wurde, nachdem er sich im Brunnen selbst verletzt hatte und anschließend mit einem Messer auf die Polizisten zuging. Ein Vorfall, der schon deshalb Büchners Erzählung zu wiederholen scheint, weil auch Lenz immer wieder in den Brunnen des Dorfes Waldbach springt. Ebenso behandelt das Stück die Erschießung einer Frau in ihrer Wohnung in Friedrichshain Anfang 2020. Die 33-Jährige soll ihren Mitbewohner mit einem Messer bedroht haben, woraufhin dieser die Polizei rief. Die Beamten stürmten die Wohnung und erschossen die Frau in ihrem Zimmer, in welchem nur Polizisten anwesend waren. Auch die Ermordung des senegalesischen Asylbewerbers Mouhamed Dramé, der 2022 in Dortmund von einem Polizisten mit fünf Schüssen getötet wurde, greift das Stück auf.

»Ultralenz« behandelt damit nur einige von vielen Fällen – oft tödlicher – Polizeigewalt. Die Inszenierung stellt die bedrückende Frage, was solche immer wieder vorkommenden Ereignisse für psychisch kranke Menschen in Deutschland bedeuten. Völlig offen bleibt allerdings, warum diese Gewalt immer wieder auf der Tagesordnung steht. »Ultralenz« thematisiert zwar die Häufung dieser Ereignisse, die durch subjektive Boshaftigkeit von Polizist*innen nicht zu erklären ist. Weil Polizeigewalt gegen Menschen in psychischen Notsituationen einer Statistik der »Süddeutschen Zeitung« zufolge in Deutschland nicht nur in drei Fällen, sondern allein seit 2010 über 133 mal vorgekommen ist, drängt sich aber die Frage auf, wie es zu dieser regelmäßigen Form der Gewalt kommt.

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Ein Theaterstück kann sich der Beantwortung dieser Frage nur künstlerisch annähern, will es keine Lehrveranstaltung sein. Linke Theoretisierung von Polizeigewalt gibt es hingegen zuhauf und ein Allgemeinplatz lautet hier etwa, im Dienste des Staates sei die Polizei dafür verantwortlich, die Eigentumsordnung zu schützen. Der Kapitalismus setze die ausführende Gewalt der Polizei dafür ein, den reibungslosen kapitalistischen Alltag zu gewährleisten. Eine solche Erklärung, mag sie auch einiges für sich haben, greift hier gerade nicht. Die von der Polizei erschossenen, psychisch kranken Menschen können vielleicht den öffentlichen Frieden und damit im weitesten Sinne auch den kapitalistischen Normalbetrieb gefährdet haben, keineswegs war aber ihre Erschießung zu dessen Erhaltung notwendig. Die von anderer Seite häufig vorgebrachte Vorstellung, dass der Staat für den Schutz der Bürger*innen verantwortlich sei, greift hier aus demselben Grund nicht. Zu deutlich ist in den drei genannten Fällen, dass die vermeintliche Bedrohungslage auch anders hätte gelöst werden können.

Benjamins Kritik der Gewalt

Wie entsteht also diese keineswegs unmittelbar funktionale, aber dennoch systematische Gewalt? Nützliche Hinweise für die Beantwortung dieser Frage gibt Walter Benjamin in seiner Charakterisierung der Polizei in dem Aufsatz »Zur Kritik der Gewalt« aus dem Jahr 1921. Dort heißt es: »Die Behauptung, daß die Zwecke der Polizeigewalt mit denen des übrigen Rechts stets verbunden oder gar identisch wären, ist durchaus unwahr. Vielmehr bezeichnet das ›Recht‹ der Polizei im Grunde den Punkt, an welchem der Staat (…) seine empirischen Zwecke (…) nicht mehr durch die Rechtsordnung sich garantieren kann. Daher greift ›der Sicherheit wegen‹ die Polizei in zahlreichen Fällen ein, wo keine klare Rechtslage vorliegt, wenn sie nicht ohne jegliche Beziehung auf Rechtszwecke den Bürger als eine brutale Belästigung durch das von Verordnungen geregelte Leben begleitet oder ihn schlichtweg überwacht.«

Die Polizei, kann man von Benjamin erfahren, verfolgt also keineswegs nur die Zwecke des Rechts. Benjamin konstatiert viel eher eine Ermächtigung dieser Institution, die damit niemals nur Exekutive ist, sondern sich von den Rechtszwecken geradezu freimacht. Die ermächtigte Polizei begleite die Bürger als »brutale Belästigung«. Warum aber muss sich die Polizei, die doch scheinbar nur ausführende Gewalt ist, von einer rechtserhaltenden zu einer rechtssetzenden Kraft erheben? Könnten die Beamt*innen nicht einfach »Dienst nach Vorschrift« erledigen?

Die Antwort liegt in dem, was Benjamin das »Morsche (…) im Recht« nennt: Morsch würde das Recht dann, wenn es die Gewalt unterdrücken und verleugnen muss, auf der es doch selbst basiert und die es gegen sich selbst hervorbringt. Diesen Umstand meint Benjamin, wenn er das Recht als mythische Gewalt beschreibt und es immer wieder in die Nähe des Schicksals rückt. Wie die mythische Ordnung die Gegenwehr gegen das Schicksal hervorruft und diese Gegenwehr dann immer wieder einholt, schwebt auch das Recht drohend über der Gegengewalt, die es – selbst Gewalt – stets hervorruft. Die Geister, die es rief, versucht es mithilfe der Polizei loszuwerden, eine vergebliche Mühe, weil es die Rechtsordnung selbst ist, die die Abweichung vom Recht hervorbringt. Die rechtssetzende Gewalt notwendig verleugnend, ist das »morsche« Recht auf die Polizei angewiesen, in der sich jedoch jene verdrängte Gewalt des zu erhaltenden Rechts staut und immer wieder entlädt.

Weil also die vorgeblich nur rechtserhaltende Gewalt der Polizei die rechtssetzende fortführen muss, ist die Polizei niemals nur Exekutive, sondern changiert zwischen Rechtserhaltung und Rechtssetzung. Darum charakterisiert Benjamin die Polizei als ein Gespenst: »Im Gegensatz zum Recht (…) trifft die Betrachtung des Polizeiinstituts auf nichts Wesenhaftes. Seine Gewalt ist gestaltlos wie seine nirgends faßbare, allverbreitete gespenstische Erscheinung im Leben der zivilisierten Staaten.« Was der Polizei »wesenhaft« ist, weiß sie dabei vermutlich selbst nicht einmal, denn wer ein Gespenst zu fassen versucht, fuchtelt dabei am Ende nur in der Luft herum.

Diesen Fehler sollte eine linke Polizeikritik gerade nicht machen. Blickt man von hier zurück auf »Ultralenz«, den Neptunbrunnen, die Erschossene in Friedrichshain und die Ermordung Mouhamed Dramés, zeigt sich, was Benjamin zur Kritik eben dieser Gewalt Interessantes beizutragen hat: Weil ihm zufolge die rechtserhaltende Gewalt (zu der ganz wesentlich die Polizei gehört) sich gegen alle feindlichen Gegengewalten (wie etwa Verbrechen oder Revolten) wehren muss schwächt sie indirekt die rechtssetzende Gewalt, für die sie eigentlich einstehen sollte und der sie ihre Existenz verdankt. Symptom dieses Prozesses ist die notwendige Selbstermächtigung der Polizei. Dass ihre Gewalt eine willkürliche, »brutale Belästigung« darstellt, ist jedoch keineswegs einem eigentlich guten Recht des Staates entgegengesetzt. Vielmehr ist diese Ermächtigung der Exekutive notwendige Konsequenz der rechtssetzenden Gewalt und ihrer Zwecke.

Erhält die Polizei das Recht?

Während die Rechtsgewalt den Bürger*innen als schicksalshaft und drohend begegnet, ist sie selbst einem traurigen Schicksal ausgeliefert: Um sich zu erhalten, muss sie sich verraten. Die nicht zweckmäßige und dennoch systematische Polizeigewalt ist damit ein notwendiger Überschuss. Dieser leitet sich nicht einfach aus der Aufgabe der Polizei ab, sondern muss als eine Art Nebenfolge der Rechtserhaltung, die nichtsdestoweniger notwendig ist, verstanden werden.

Die in der Exekutive angehäufte Gewalt lässt sich in den zahlreichen Fällen wiederfinden. Sie zeigt sich etwa dort, wo die Polizei durch Verordnungen eigenes provisorisches »Recht« setzt (Benjamin setzt diesen Begriff bewusst in Anführungszeichen). Oder sie steckt in der ständigen Gewalt gegen Menschen in psychischen Notsituationen, womit die Polizei den Spielraum der ihr zugestandenen Handlungsfreiheit großzügig verlässt und dafür anschließend nur selten belangt wird.

Benjamin erkennt, dass die Gewalt der Polizei nicht nur aus ihrer Aufgabe begriffen werden kann und trotzdem notwendig an die Staatsgewalt gebunden ist. Seine Überlegungen helfen einer linken Polizeikritik dabei, weder Polizeigewalt funktionalistisch abzuleiten noch in Staatsaffirmation zu verfallen, die die schlechte Polizeigewalt vom guten Recht trennen will.

Damit setzt Benjamins Text, bei allen Rätseln, die er aufgibt, Maßstäbe für eine angemessen komplexe Polizeikritik. Eine Kritik, die nicht zuletzt auch in der gegenwärtigen Debatte um Abolitionismus hilfreich sein könnte. Wie eine Gesellschaft jenseits des gewaltsamen Rechts aussehen kann, ist dabei nicht nur eine Frage der Lektüre und der Theorie, sondern vor allem eine der gemeinsamen gesellschaftlichen Praxis. Denn: Mag sich das Recht auch verhalten wie ein Schicksal, seine Existenz ist ganz sicher keines.

Das Stück »Ultralenz. 70 000 Cops wollen deine Location wissen« läuft noch bis zum 19. Januar 2024 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin.

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