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Anna Poth: Mein liebstes Schandmaul

Ein Nachruf auf Anna Poth

  • Christian Y. Schmidt
  • Lesedauer: 5 Min.
Neue Frankfurter Schule: Anna Poth: Mein liebstes Schandmaul

Als ich im Juni 1986 als erster von vier Bielefelder Redakteuren des Fanzines »Dreck« nach Frankfurt am Main zur »Titanic« kam, um hier mein dreimonatiges Volontariat anzutreten, war die Stimmung dort ziemlich vergiftet. Der damals 27-jährige Chefredakteur Jörg Metes – der jüngste Chef bis dato – war nicht nur mit seiner Aufgabe vollkommen überfordert, sondern auch mit dem Rest der Redaktion heillos zerstritten, speziell mit den drei Hamburgern Richard Kähler, Hans Werner Saalfeld und Hans Kantereit. Umgekehrt machten auch diese aus ihrer Abneigung gegen Metes keinen Hehl. Selbst der von Metes für einiges Geld aus West-Berlin eingeflogene Zeichner Stefan Mittag – unter anderem war ihm eine Wohnung besorgt und der Umzug bezahlt worden –, hatte sich schnell von seinem Förderer abgewandt, und kehrte einige Monate später nach Berlin zurück, weil er es in der Redaktion nicht mehr aushielt.

Ich hatte mich auf meine Arbeit bei der »Titanic« gefreut; war ich nicht endlich da, wo ich immer hingewollt hatte? Doch die reale Atmosphäre im Dachgeschoss der Frankfurter Brönnerstraße bedrückte mich. In meinem Tagebuch notierte ich mir den resignierten Satz, den Richard Kähler eines Nachmittags zu mir sagte: »Hier gibt es keine Menschen, nur Kollegen.« Ich fand es auch verwunderlich, wie bürgerlich sich die sogenannten Alten der Neuen Frankfurter Schule sich gaben. Ich kam aus einem undogmatisch linken Milieu in Bielefeld und hatte erwartet, das meine Idole ein mindestens so unkonventionelles Bohème-Leben führen würden wie sie zeichneten und schrieben. Doch ich traf auf Leute in ihren »besten Jahren«, die in großen Gründerzeitwohnungen lebten, diese selbst besaßen, mit der Frankfurter Honoratiorenbagage gut bekannt waren und mich zum Teil sogar siezten.

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Ich wohnte damals provisorisch in einer kaum möblierten Dachgeschosswohnung in der Neuhaußstrasse 12, die Robert Gernhardt für sich ausgebaut hatte. Später würde er sie einmal als Atelier nutzen, aber im Sommer 1986 stand sie noch leer, auch weil Robert anderswo in Frankfurt lebte. Dort gab es ein Bett, in dem ich nächtigte und eine prächtige Einbauküche, das war es aber schon. Im Haus gegenüber wohnte Chlodwig Poth mit Anna. Ich wusste kaum etwas Privates über die beiden, noch nicht einmal, ob sie überhaupt verheiratet waren, denn Chlodwig hatte wohl Kinder, aber nicht mit ihr.

Doch die genauen Details sollte ich erst ein paar Wochen später erfahren. Eines Morgens in diesem Frühsommer 1986 verließ Anna Poth nämlich zur gleichen Zeit wie ich ihr Haus in der Neuhaußstrasse. Ich grüßte sie kurz und wollte dann schnell weiter zur U-Bahn-Station Holzhausenstraße, um mit der Bahn zu meinem deprimierenden Arbeitsplatz zu fahren. Trotz prächtigstem Wetter war ich so schlecht gelaunt, dass ich auf dem Weg keinesfalls Gesellschaft wünschte. Anna aber ließ nicht locker. »Ach, du steigst auch immer Holzhausenstraße ein. Genau wie ich. Sicher: Die Station Miquel/Adickesallee ist vielleicht ein paar Meter näher. Aber ich hasse es, in eine andere Richtung zu gehen, als die, in die ich muss, selbst wenn das schneller ist.« Mit dieser Bemerkung hatte sie mich. Genau dieselbe, bei genauerer Betrachtung doch recht irrationale Macke habe ich nämlich auch.

Sofort hellte sich meine Stimmung auf, und auf den paar hundert Metern bis zur U-Bahn-Station Holzhausenstraße plauderten wir beide recht lustig miteinander. Anna war es dabei vollkommen egal, dass ich zu diesem Zeitpunkt ein Nobody aus Bielefeld war, und ich freute mich, dass mich hier endlich mal jemand als – ja, schreiben wir es ruhig mal hin, auch wenn es etwas platt klingt – als Mensch behandelte und nicht als Kollegen.

Es sollte nach dieser ersten Begegnung dann nicht lange dauern, bis ich öfters bei den Poths drüben war, und ich dabei fast alles über das lustige Paar erfuhr. Wie sie sich beide noch in der »Pardon«-Redaktion kennengelernt hatten, wo sie als Sekretärin arbeitete und sich bald, obzwar verheiratet, in einem geheimen Liebesnest in der Bergerstraße trafen. Dass sie sich dann später beide von ihren jeweiligen Ehepartnern scheiden ließen, und dass sie jetzt, ja doch, natürlich, schon lange verheiratet waren.

Auch später, als sie aus ihrer Mietwohnung flogen und eine letzte Bleibe in einer alten Schule in Sossenheim fanden, war ich bei ihnen immer wieder sehr gerne Gast. Auf allen ihren Partys ging es entspannt und unförmlich zu, wozu nicht nur Chlodwigs gutes Gras, sondern gewiss auch Annas hessisches Schandmaul beitrug. Gerne fuhr sie ihrem Mann über den Mund, wenn der wieder mal eine steile These in seinen langen Bart brummelte. Ich liebte die Schaukämpfe zwischen den beiden, denn ich wusste auch, dass sich Anna und Chlodwig trotz oder vielleicht auch deswegen bis zum Schluss heiß und innig liebten. Für mich waren sie das Traumpaar der Neuen Frankfurter Schule, und dazu hat wahrscheinlich Anna sogar ein bisschen mehr als Chlodwig beigetragen.

Mit Anna und Chlodwig verstand ich mich sogar so gut, dass ich zusammen mit ihnen und Achim Greser zusammen in einen Kurzurlaub nach Amsterdam fuhr, im Juni 1989, kurz nachdem ich als echter Redakteur bei der »Titanic« angefangen hatte. Leider haben wir uns dann aus den Augen verloren, als ich 2003 nach Ostasien ging. Chlodwig starb kurze Zeit später, im Juli 2004. Anna diese Woche im sagenhaften Alter von 100 Jahren. Ich hatte mir immer wieder vorgenommen, sie wenigstens noch ein einziges Mal zu besuchen, und als sie im letzten November ihren 100. Geburtstag feierte, dachte ich für mich: Du hast noch Zeit. Anna ist so robust, die überlebt uns alle.

Ich bin sehr traurig, dass das ein Irrtum war.

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