Mélenchon und Wagenknecht: Klasse statt Standort

Der französische Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon ist sehr erfolgreich. Von Sahra Wagenknecht unterscheidet ihn viel

  • Raul Zelik
  • Lesedauer: 5 Min.

In der französischen Linken ist vieles anders. Zu Demonstrationen gegen die Anhebung des Rentenalters erscheinen Mandatsträger*innen der Linken schon mal mit Schärpen in Nationalfarben. Und im letzten Wahlkampf verkündete der linke Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon, man werde nicht zulassen, dass sich die Rechte der Geschichte der Nation bemächtige. Die extreme Rechte vergieße »Tränen für eine französische Identität, die nie existiert hat«, sagte Mélenchon und ergänzte: »Wir sind die Patrioten. Die wahren Patrioten.«

Sahra Wagenknecht lässt sich ein solcherart unverkrampftes Verhältnis zur Nation gewiss nicht nachsagen. Doch in anderer Hinsicht ist ihre neue politische Bewegung zweifelsohne von Mélenchon inspiriert. Ähnlich wie der Franzose attackiert auch Wagenknecht die Europäische Union, wie er verknüpft sie soziale Forderungen mit einer Kritik des politischen Establishments, und wie die Mélenchon-Partei La France Insoumise (Aufständisches Frankreich) setzt auch das BSW ganz auf seine populäre Führungsperson. Der Name der 2018 gescheiterten Wagenknecht-Bewegung Aufstehen verweist auf die französische Partei. Doch damit sind die Gemeinsamkeiten auch schon wieder zu Ende.

Ankunft des Neoliberalismus

Der 1951 in Marokko geborene Mélenchon hat Frankreichs Linke in den vergangenen Jahren durcheinandergewirbelt. Sein Aufstieg war dabei eng verknüpft mit dem Niedergang der traditionellen Volksparteien, der mit den strategischen (Fehl-)Entscheidungen der Parteien weniger zu tun hatte als gemeinhin gedacht. Der eigentliche Ursprung der politischen Krise waren Entwicklungen in der Weltwirtschaft: Nachdem die Profitraten in den keynesianisch regulierten Volkswirtschaften in den 70er Jahren massiv unter Druck geraten waren, setzte ein wichtiger Teil der Eliten auf einen neoliberalen Neuanfang, der sich die technologischen Innovationen zunutze machte. Im Rahmen der »Globalisierung« verloren nicht nur die Nationalstaaten an Handlungsmacht gegenüber dem (über Staatsgrenzen hinweg agierenden) Finanzkapital. Auch die sozialen Milieus, die die politische Landschaft in den westlichen Staaten geprägt hatten, lösten sich auf.

In Frankreich verlief dieser Prozess traumatisch. Die Deindustrialisierung und vor allem die Zerschlagung der Stahl- und Kohleindustrie fielen, wie auch die meisten neoliberalen Finanzreformen, in die Präsidentschaft des Sozialisten François Mitterrand (1981–1995). Mit dem Zerfall der Arbeitermilieus büßten nicht nur die regierenden Sozialist*innen, die den Prozess politisch zu verantworten hatten, ihre Wählerbasis ein, sondern auch die Kommunistische Partei, die sich den Reformen erbittert widersetzt hatte.

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Auch konservative Parteien gerieten in der Wirtschaftstransformation unter die Räder. Durch den Niedergang des Katholizismus und die Verbreitung individualistischerer Lebensentwürfe nahm die Parteienbindung bei Konservativen dramatisch ab, was sich in der Folge der rechtsextreme Front National zunutze machte. Frankreich war eines der ersten Länder Europas, in denen sich eine faschistische Partei etablieren konnte. 1988 lag der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen nur knapp hinter den beiden bürgerlichen Kandidaten und schaffte es mit einem Programm, das sich Migrationsbekämpfung und »die Verteidigung der nationalen Identität« auf die Fahnen schrieb, bei den Präsidentschaftswahlen 2002 auch erstmals in die Stichwahl.

Das ist der Hintergrund, vor dem der langjährige Abgeordnete der Sozialistischen Partei (PSF) Mélenchon sein eigenes politisches Projekt lancierte. Mélenchon, der sich in trotzkistischen Jugend- und Studierendenorganisationen politisiert und danach dem linken Flügel der Sozialdemokratie angehört hatte, warf seiner Partei die Unterwerfung unter den neoliberalen Zeitgeist vor und gründete 2008 die Partei der Linken (Parti de Gauche).

Antirassismus und Patriotismus

Dieses Projekt schien sich zunächst in eine ähnliche Richtung zu bewegen wie die Linke in Deutschland. Doch spätestens mit den Präsidentschaftswahlen 2017 wurden die Unterschiede manifest: Mit seinem radikal-oppositionellen Diskurs schwang sich Mélenchon zum wichtigsten Politiker links der Mitte auf und lag mit 19,6 Prozent meilenweit vor dem Kandidaten der damals noch regierenden Sozialdemokratie, der es nur auf 6 Prozent schaffte.

Mélenchon gelang es dabei nicht nur, die Sozialdemokratie zu beerben, sondern bildete auch einen Pol gegen den Rechtsruck in der Gesellschaft. Trotz scharfen Widerspruchs aus den großen Medienhäusern baute er sein Ergebnis bei den Wahlen 2022 auf 22 Prozent aus und zwang Sozialdemokrat*innen, Grüne und Kommunist*innen danach in eine gemeinsame Linksfront. Heute hält die Neue Ökologische und Soziale Volksunion (Nupes) im französischen Parlament etwa ein Viertel der Abgeordnetensitze.

Wer in Deutschland nun die Hoffnung hegt, Sahra Wagenknecht könnte mit ihrem Bündnis etwas Vergleichbares glücken, sollte die erheblichen Unterschiede zwischen den politischen Projekten zur Kenntnis nehmen. Da ist zunächst die Referenz an die Nation. Zwar ist Mélenchon dezidiert EU-kritisch und propagiert eine souveräne Wirtschaftspolitik Frankreichs. Doch im Unterschied zu Wagenknecht hat er diese Kritik nie mit migrationsfeindlichen Positionen verknüpft. Mélenchons Kritik am Identitätsbegriff der Rechten zielt im Gegenteil auf eine Verteidigung des Rechts auf Migration ab: Mélenchon proklamiert einen antirassistischen Patriotismus, der die Migrant*innen vor der rechten Hetze in Schutz nimmt. In diesem Sinne hielt Mélenchon 2017 mit Zehntausenden seiner Anhänger*innen am Hafen von Marseille eine Schweigeminute für die im Mittelmeer ertrunkenen Geflüchteten ab und klagte das EU-Grenzregime mit den Worten an: »Jeden Tag sterben auf diese Weise zwei Kinder.« In einem Interview forderte er unlängst zudem die Regularisierung aller Sans-Papiers, also aller illegaler Einwanderer*innen in Frankreich.

Zweitens hat sich Mélenchon viel konsequenter als die Sozialistische oder Kommunistische Partei für ein Bündnis mit den Umwelt- und Klimabewegungen entschieden. La France Insoumise will nicht nur den Ausstieg aus der Atomkraft, die von einer klaren Bevölkerungsmehrheit in Frankreich befürwortet wird, sondern auch den ökologischen Umbau der Gesellschaft beschleunigen. In diesem Sinne hat sich Mélenchons Partei an den Protesten von Umweltgruppen und Kleinbauern gegen die großen Wasserspeicher (»méga-bassins«) beteiligt, die in Anbetracht des Klimawandels von der industriellen Landwirtschaft gefordert und mit Unterstützung der Regierung gerade überall im Land errichtet werden.

Drittens richtet sich Mélenchons Kritik eher gegen ein politisch-ökonomisches System als gegen »eine unfähige Regierung«. Als französische Arbeiter in den 2010er Jahren Unternehmer als Geiseln nahmen, um Fabrikschließungen zu verhindern, solidarisierte sich Mélenchon wortstark mit den Beschäftigten. Und nach der Ermordung eines nichtweißen Jugendlichen bei einer Polizeikontrolle im vergangenen Sommer kritisierte er den »systemischen Rassismus« der Polizei und weigerte sich, die Bewohner der migrantisch geprägten Armenviertel zur Gewaltlosigkeit aufzurufen. Zugespitzt könnte man wohl sagen: Mélenchons Populismus geht es um eine Klasse und nicht um einen Wirtschaftsstandort. Er ist eher Hugo Chávez als Sahra Wagenknecht.

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