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Die Gewöhnlichkeit von Volk und Volksvertretern
Das neue Stück von Lukas Rietzschel in Zittau sollte nicht auf einen Kommentar zum Schicksalswahljahr 2024 verkürzt werden
Schon vor der Uraufführung von »Das beispielhafte Leben des Samuel W.« am 20. Januar freute man sich am Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau über viel Aufmerksamkeit: Autor Lukas Rietzschel ist 29, aber seit seinem Debütroman »Mit der Faust in die Welt schlagen« 2018 entdecken ihn seine Artgenossen aus dem Beitrittsgebiet und noch mehr die fassungslosen Originaldeutschen aus dem Westen als Ossi-Versteher und -erklärer. Warum zeigen sich diese Schlechtgelaunten so undankbar für die Segnungen des Westens? Warum entdeckten ausgelaugte West-Nazis nach der Wende hier neue Tummelplätze, warum infizieren Ostdeutsche mit apokalyptischen Wahlumfragen der AfD nun wiederum den Westen?
Hier ist ein junges Schreib- und noch mehr Beobachtungstalent zwar von denselben Fragen nach einer Anamnese übler Erscheinungen im einheitsbeglückten Osten ergriffen wie viele Bürger. Aber nichts liegt ihm ferner, als die konsumierfreudig zu inszenieren, gar messianische Antworten zu präsentieren. Auch dann nicht, wenn von ihm nun in Zittau das Stück zu den anstehenden Wahlen erwartet wurde. Rietzschel schürt zwar absichtslos seit einem halben Jahrzehnt solche Erwartungen, weil sich dem bodenständigen Lausitzer nach einem Kasseler Studienausflug der Heimatstoff aufdrängt. Aber dieser »Samuel W.« ist erneut nicht mehr und nicht weniger als die Schilderung eines Milieus – und im Brechtschen Sinn der Verhältnisse, dem die generalfrustrierten Gegenallesmotzer, jene für eine konstruktive Gesellschaftsreform Verlorenen entstammen.
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Auf der Bühne in Zittau steht nun dieser Samuel W. (Paul-Antoine Nörpel) beispielhaft für den Aufstieg eines ziemlich gewöhnlichen Polizisten zum AfD-Spitzenkandidaten und ebenso beispielhaft für die Durchschnittlichkeit seiner Klientel. Die lässt der Autor über ihn reden, manchen Bürger auch. Hundert Interviews in Görlitz und Umgebung bilden ihmzufolge die Basis für die Schilderungen. Ob er sich nach Anfeindungen vorsichtshalber dahinter verstecke? Nein, dementiert Rietzschel und verweist auf die künstlerische Bearbeitung und die Zitatauswahl.
So entsteht eine Biografie und ein Bild des Kandidaten W., der für eine nicht namentlich genannte Partei im Kommunalwahlkampf antritt. Einheimische und politische Beobachter ahnen bald: Samuel W. heißt im Original Sebastian Wippel, führte nach dem ersten Wahlgang der Görlitzer Oberbürgermeisterwahlen 2019, bevor er vom CDU-Gegenkandidaten Octavian Ursu noch abgefangen werden konnte. Der saß zur Premiere im Publikum und lobte anschließend die treffende Widerspiegelung.
W. taucht nicht als Rolle auf, nur als stumme Figur, die sich auf einem Podest im Hintergrund in Slow-Motion-Gesten und Posen übt. Sie könnten an Hitlers rhetorisch-körpersprachlichen Unterricht erinnern. Über ihn wird nur erzählt, und zwar durchaus unterhaltsam und keineswegs humorfrei. Regisseur und Schauspieldirektor Ingo Putz vermeidet dröge Berichte, indem er eine Fünfergruppe Gartenpartystimmung simulieren lässt. Schön spießig, schaffe, schaffe Häusle baue, und zwar hinterm Zaun, Grill und Pool mit einem etwas albernen weißen Delphin darin.
Denn ganz in Weiß ist die komplette Ausstattung gehalten, was man als persiflierenden Hinterhalt interpretieren kann. Sind es die sich ewig in Unschuld wähnenden Bürger, das dennoch zu allem fähige »Volk«? Ist es ein Krankenhaus-Weiß, das für die Sterilität dieser kleinbürgerlichen Gesellschaft steht? Das Bild, das aus Anekdötchen nach und nach vom Kandidaten W. entsteht, entspricht diesem uninspirierten Milieu. Als Kind oder Jugendlicher fiel er nie als Alphatier oder durch besondere Gaben auf, eher mit seinem ersten langen Leder-Führermantel.
Diese Normalität, diese korrespondierende Gewöhnlichkeit von Volk und AfD-Möchtegern-Volksvertreter vermitteln Autor, Regie und das sechsköpfige Ensemble treffend. Insofern steht die historische Konstellation vom 2019 auch paradigmatisch für das begonnene Richtungswahljahr. Die Gemengelage Ost, ein Resultat aus DDR-Prägung, Westanbetung, folgendem Kapitalismusfrust, wird dabei auch mal kolportiert. Rietzschel ist kein Ostalgiker, demontiert Mythen wie die emanzipierte Frauenrolle und Ausbeutungsfreiheit in der DDR. Genussvoll ziehen seine Figuren über die Brüder und Schwestern im Westen her, »die wollten, dass wir Wessis werden«. Die empathielose Empörung der Heutigen, sie könnten »die Wohnung nicht mehr heizen, weil irgendwo ein Krieg ist«, spricht für sich. Vergebliches Warten auf Godot, den Erlöser.
Worauf Rietzschel im Finale mit dem ahistorischen Verzicht W.’s auf eine erneute Kandidatur im zweiten Wahlgang hinauswill, mag sich jeder selbst zusammenreimen. Stattdessen will er lieber Innenminister werden. Sarkastisch muten die Rufe des Volks »Lang lebe der Bürgermeister, lang lebe die Demokratie« an. Woraufhin es umfällt und in Verrenkungen am Boden verfällt.
Nächste Vorstellungen: 1.2., 4.2., 9.3.
Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau
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