Die Notwendigkeit des Hörens an sich

»Prometeo« des italienischen Komponisten Luigi Nono ist nach 40 Jahren an den Ort seiner Uraufführung zurückgekehrt

  • Florian Neuner
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Frau sortiert Notenblätter, die Tochter übt sich im Schreiben – der Komponist Luigi Nono in seinem Haus, 1972
Die Frau sortiert Notenblätter, die Tochter übt sich im Schreiben – der Komponist Luigi Nono in seinem Haus, 1972

Am ersten Tag des venezianischen Karnevals liegt dichter Nebel über der Lagune. Touristen, angetan mit den hässlichen Masken, die an jeder Ecke verkauft werden, schieben sich durch die Gassen, die Plätze sind mit Konfetti bestreut. Das Motto des diesjährigen Karnevals lautet mäßig originell: »Die außergewöhnliche Reise des Marco Polo«. Das Grab von Polo soll sich in San Lorenzo befunden haben, verifiziert werden konnte das freilich nie. In der ehemaligen Klosterkirche im Stadtteil Castello wurde jetzt aus Anlass des 100. Geburtstags des Komponisten Luigi Nonos spätes Hauptwerk »Prometeo« gespielt; die vier Aufführungen wurden regelrecht gestürmt.

Dass der »Prometeo« damit nach 40 Jahren wieder an den Ort seiner Uraufführung zurückkehrte, wäre bei anderen Stücken nur eine Fußnote wert – nicht bei der »Tragödie des Hörens«, dieser großen akustischen Rauminszenierung. Nono, für den Avantgarde und Traditionsbewusstsein keinen Gegensatz bildeten, war als Venezianer beeinflusst von der Mehrchörigkeit, die Komponisten wie Giovanni Gabrieli in San Marco praktizierten, und hätte seinen »Prometeo« auch gerne für den Markusdom konzipiert. Die Wahl fiel schließlich auf die säkularisierte Kirche San Lorenzo, die ihr heutiges Aussehen um 1600 erhielt und sich durch einen raumhohen Altar auszeichnet, der den quadratischen Raum in zwei Teile teilt: Auf einer Seite saßen die Laien, auf der anderen die Benediktinerinnen.

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Carlo Fontana, der damals die Musikabteilung der Biennale leitete, verwendete 1984 in einer großen Kraftanstrengung sein gesamtes Budget für den »Prometeo«, eine Koproduktion mit der Mailänder Scala; Claudio Abbado dirigierte und Renzo Piano entwarf eine hölzerne »Barca«, die die beiden Teile des Kirchenraums verband und in der rund um das Publikum auf Galerien die Musiker, Sänger und die Lautsprecher für die Live-Elektronik postiert waren, um den Nono vorschwebenden Raumklang zu generieren. Man saß gewissermaßen in einem Klangkörper.

Wer nun gehofft hatte, in San Lorenzo auch die Wiederauferstehung von Renzo Pianos Konstruktion zu erleben, sah sich allerdings enttäuscht. Die »Struttura« wurde 1985 noch einmal in Mailand eingesetzt, danach aber zersägt und eingelagert, heute ist sie nicht mehr verwendbar. Jetzt waren die Musiker auf simplen Baugerüsten verteilt; anders als 1984 entstand anstelle der beiden gleichsam interagierenden Räume der »Barca« und der sie umgebenden Kirche also ein einheitlicher Klangraum.

Noch bis vor wenigen Jahren wäre eine Aufführung des »Prometeo« ohne Beteiligung des Experimentalstudios des SWR in Freiburg undenkbar gewesen. Dessen Leiter Hans Peter Haller und später André Richard hatten noch mit Nono gearbeitet und adaptierten die Live-Elektronik an immer wieder neue Aufführungsorte. Damit es nicht bei der mündlichen Überlieferung bleibt, haben André Richard und Marco Mazzolini bei Ricordi auf Grundlage der zweiten Mailänder Fassung eine »Prometeo«-Partitur ediert, die auch den Einsatz der Live-Elektronik nachvollziehbar macht.

Luigi Nonos erste beiden musiktheatralischen Werke, »Intolleranza 1960« und »Al gran sole carico d’amore«, 1975 an der Scala uraufgeführt, zunächst umstritten, sind mittlerweile Bestandteil des Repertoires; der zeitliche Abstand lässt ihre Verwurzelung in der italienischen Operntradition heute deutlich werden. Es sind kämpferische Stücke, in denen der überzeugte Kommunist die Geschichte des Klassenkampfs und der Revolutionen thematisiert.

Nono vermeidet den Begriff Oper und spricht von »Azione scenica«. Eine »szenische Handlung« hatte ihm zunächst auch vorgeschwebt, als er daran ging, sich mit dem Prometheus-Stoff auf Grundlage der Tragödie von Aischylos zu beschäftigen. Doch dann entfernte er sich, während er im Freiburger Studio mit Live-Elektronik experimentierte, immer weiter vom Theater, und sein »Prometheus« – der Titan, der den Göttern das Feuer raubt und dafür bestraft wird – mutierte zu einer Anti-Oper: Es gibt keine Bühne, keine Protagonisten, noch nicht einmal eine Handlung, nur eine rein »akustische Dramaturgie«, eine Klangbühne, auf der sich die Klänge um die Zuhörer bewegen.

Als »Libretto« hat Massimo Cacciari, der Philosoph und spätere Bürgermeister von Venedig, eine Textcollage gefertigt, die Griechisch, Deutsch und Italienisch mischt, von Hesiod über Friedrich Hölderlin bis Walter Benjamin führt und etwas bildungshubernd daherkommt. Nonos Textbehandlung ist freilich nicht dazu geeignet, auch nur eine partielle Verständlichkeit zu garantieren. Für ihn ist der Text in erster Linie Material.

Das neunteilige, etwa 135-minütige Stück haben Nono und Cacciari als »Archipel« konzipiert und bezeichnen einzelne Abschnitte denn auch als »isole«. Die Dynamik ist, von markanten Ausbrüchen abgesehen, zurückgenommen, liegende und schwebende flächige Töne, mikrotonal gefärbt, prägen das Klangbild des sich in langsamem Duktus voranbewegenden Stückes. Pausen gibt es kaum, die vokale Ebene ist stark geprägt von in hohen Lagen singenden Sopranen – »Belcanto« à la Nono. Anders als in seinen frühen elektronischen Stücken wie »La fabbricca illuminata«, in denen er die menschliche Stimme gegen die Geräusche der technischen Welt in Stellung bringt, vermeidet er im »Prometeo« diese Kontraste. Die Klänge werden verhallt, transponiert, mit dem in Freiburg erfundenen Halaphon durch den Raum geschickt, jedoch nicht so stark verfremdet, dass nicht alles jederzeit verschmelzen könnte.

Mit der Loslösung von Freiburg ist endgültig die Zeit angebrochen, den »Prometeo« neu zu befragen. In Venedig waren immerhin mit dem Flötisten Roberto Fabriciani, dem Posaunisten und Tubisten Giancarlo Schiaffini und dem Elektroniker Alvise Vidolin noch drei Musiker beteiligt, die schon vor 40 Jahren dabei waren und eine gewisse Kontinuität garantieren. Marco Angius (mit Filippo Perocco als Ko-Dirigent) leitete den Coro del Friuli Venezia Giulia und das Orchestra di Padova e del Veneto; Livia Rado, Rosaria Angotti, Chiara Osella, Katarzyna Otczyk und Marco Rencinai waren die Gesangssolisten in dem überzeugenden Ensemble. Zu hören war in San Lorenzo ein insgesamt eher »lauter« »Prometeo«, der sich nicht wie weiland bei André Richard an einem Pianissimo-Unterbietungswettbewerb an der Hörbarkeitsgrenze beteiligen zu wollen schien. Auch konnte man den Eindruck haben, dass eine möglichst große Verschmelzung der Klangebenen nicht das oberste Ziel war.

»Plötzlich stand ich ganz im Bann der Notwendigkeit des Hörens an sich«, beschrieb Nono seinen Ausgangspunkt Anfang der 80er Jahre. Ob es an der Schwelle zum Spätwerk einen Wendepunkt gab, der weg vom »politischen« Nono hin zu einer neuen Innerlichkeit führte, wurde viel diskutiert. Nono selbst sah keinen Bruch und sprach davon, sein Denken erweitern und vertiefen zu wollen. Auch der Musikwissenschaftler Matteo Nanni, der 2022 ein Nono-Buch mit dem Titel »Politik des Hörens« vorgelegt hat, hebt die Kontinuitäten hervor. Der späte Nono fordere von den Hörern eine »aktive Haltung«, die offen für »plurale Wahrheiten« bleiben müsse: »Und diese Wahrheiten werden von der Musik nicht als abstrakte, übersinnliche Axiome aufoktroyiert, sondern zeigen sich im selben Zug, wie sie sich verbergen, in der Materialität des Klanges und deren immer radikaler werdenden Leerstellen.«

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