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Grammys: Warum Tracy Chapmans »Fast Car« alle abholt

Nadia Shehadeh eine besondere Performance bei den diesjährigen Grammys

Machen wir uns nichts vor: Natürlich schneidet man in Deutschland ein bisschen mit, was bei den Grammys so abläuft. Aber es ist auch nicht so ein TV-Event, das so lohnenswert ist, dass man dafür gern eine Nacht durchmacht. Zeitverschiebungen aber sind im Zeitalter von Breitbandinternert und Social Media eh wurst, denn das, was man während des süßen Nachtschlafes bei der Übersee-Glitzer-Gala verpasst hat, kann einem direkt in sorgfältig kuratierten Häppchen serviert werden, sobald man in den popkulturell konnotierten Ecken des Internets surft.

Ich habe morgens die schlechte Angewohnheit, direkt auf mein Handy zu gucken, nachdem ich aufgewacht bin – und zwar direkt in die Instagram-App, obwohl es einem direkt die Belohnungsneurologie eines ganzen Tages zerschießen kann. Das behaupten zumindest einige Wissenschaftler*innen. Ich mache trotzdem damit weiter. Am Morgen nach den Grammys war das erste, das mich ansprang, das Video vom Auftritt Tracy Chapmans und Luke Combs’ und ihrer Darbietung des Chapman-Klassikers »Fast Car«.

Auch meine Textnachrichten-Inboxen auf diversen Kanälen füllten sich langsam. »Tracy«, »Diese ›Fast Car‹-Performance, oh mein Gott, ich liebe es«, »Tracy Chapman und Luke Combs bei den Grammys, SO GUT«. Damit wurde ich zugetextet, und alle hatten Recht: Wem nicht immerhin irgendeine Art von Emotion hochkam beim Anblick von Chapman auf der Bühne, der hat einfach ein Herz aus Stein. Chapman, die sich nach jahrelanger Abstinenz mal wieder live blicken ließ – und zwar in einer Zeit, die gefühlt beschissener nicht sein könnte –, machte in dieser Nacht und im Nachgang platt gesagt »etwas mit den Menschen«.

Nadia Shehadeh
Bielefeld

Nadia Shehadeh ist Soziologin und Autorin, wohnt in Bielefeld und lebt für Live-Musik, Pop-Absurditäten und Deko-Ramsch. Sie war lange Kolumnistin des »Missy Magazine« und ist außerdem seit vielen Jahren Mitbetreiberin des Blogs Mädchenmannschaft. Zuletzt hat Shehadeh bei Ullstein das Buch »Anti-Girlboss. Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen« veröffentlicht. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »Pop-Richtfest«.

User*innen der Plattform »X« (ehemals Twitter) gestanden, während des Chapman-Auftritts Rotz und Wasser geheult zu haben. »Fast Car« flutschte wieder in die Charts und bei den Streamingdiensten in die Topbereiche der Abruflisten. Es entfachte sich außerdem eine Debatte in den Sozialen Medien. Warum, so fragte man sich, holt einen der Song 2024 wieder so ab?

Klar, Luke Combs hatte im vergangenen Jahr mit seinem Cover des Klassikers und seiner Eroberung der Chartspitze das Revival schon vorbereitet. Aber der Hype, der sich nun seit Tagen abzeichnet, scheint andere Gründe zu haben. Die Nostalgie-Obsession ist seit der Grammy-Nacht so abgefahren, dass Leute schwere Geschütze auffahren, um der Welt mitzuteilen, wie sehr Chapman sie schon immer und jetzt wieder gepackt hat.

Ein weniger Minuten andauernder Live-Auftritt als Welt-Ereignis – das ist natürlich nichts Neues. Aber viele Millionen Menschen weltweit wollen in diesen Minuten etwas erkannt oder wieder erkannt haben – was genau, darauf kann man sich bisher noch nicht komplett einigen. »Fast Car« sei ein Song des Aufbruchs, der Hoffnung sagen die einen. »Das ist kompletter Quatsch!«, halten andere dagegen. Und ich gehe da mit.

Die Idee, mit einem Auto und einem Mindestlohnjob sei alles geritzt, und mit harter Arbeit könne man sich irgendwann ein »House in the Suburbs« leisten – genau darum geht es in »Fast Car« natürlich nicht, sonst wäre Chapmans Klassiker ja eine Girlboss-Hymne der ersten Stunde. Natürlich ist der Reflex, gerade bei wiedererstarkter Popularität eines legendären Popkultur-Relikts irgendwo ein Licht am Ende des Tunnels in der Message zu suchen, stark. Aber »Fast Car« liefert dieses Tunnellicht nicht, denn es ist die kunstvolle Bestandsaufnahme des ewigen Kreislaufes von Armut und Verzweiflung. Deswegen, spitzfindig gesagt, ja auch die in sich kreisende Gitarrenmelodie, die den Teufelskreis, den die Lyrics beschreiben, musikalisch einfangen.

Und trotzdem wähnt sich die »Früher war alles besser«-Fraktion in einem Popkultur-Moment, der deswegen nostalgisch ist, weil früher »alles besser war«. Und zwar generell. Früher, da sei die Musik noch besser gewesen, die Sänger*innen noch echter, und man hätte sich in den 1980ern mit einem einfachen Job noch zackig ein Auto und ein Haus leisten können – das sei die Rundum-Message von »Fast Car«, und Chapman stehe dafür mit ihrem Namen. Aber das stimmt nicht.

Die Welt war immer schon scheiße. Und Tracy hat immer schon wundervolle Songs darüber geschrieben, die plastische, traurige Realitäten nicht verkennen, sondern eins zu eins widerspiegeln. Und vielleicht haut »Fast Car« deswegen auch über 30 Jahre später noch so rein: Weil wir wissen, dass natürlich nichts besser geworden ist, sondern auch Geschichten der Resignation in Song-Klassikern einen Platz haben müssen.

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