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Ausstieg aus der Petrochemie

Covestro startet in Leverkusen eine Pilotanlage zur Herstellung von Anilin aus Biomasse

Blick in die Pilotanlage von Covestro
Blick in die Pilotanlage von Covestro

»Die Vision von Kunststoff aus Pflanzen rückt greifbar nah«, verspricht der Werkstoffhersteller Covestro. Die ehemalige Kunststoffsparte des Bayer-Konzerns, mittlerweile selbst im Dax vertreten, nahm am Dienstag die weltweit erste Pilotanlage zur Herstellung von biobasiertem Anilin in Betrieb. »Wir wollen zeigen, dass dieses neue Verfahren großtechnisch funktioniert«, sagte Technologievorstand Thorsten Dreier bei der Eröffnungsfeier im Chemiepark Leverkusen.

Anilin ist ein wichtiges Zwischenprodukt der Chemieindustrie. Die leicht ölige Flüssigkeit mit süßlichem Geruch wird für die Herstellung von Farben, Medikamenten, Fasern und Kunststoffen benötigt. Mit einer Kapazität von mehr als eine Million Tonnen pro Jahr und rund 15 Prozent Marktanteil gehört Covestro zu den führenden Produzenten weltweit. Das Unternehmen setzt es als Vorprodukt von Materialien ein, die zur Herstellung von harten Polyurethan-Schaumstoffen zur Dämmung von Gebäuden und Kühlgeräten benötigt werden.

Gewonnen wird Anilin seit mittlerweile 150 Jahren petrochemisch aus Benzol, einem Rohstoff auf Basis von Erdöl. Die innovative Methode mit Biomasse wurde im Rahmen eines seit über zehn Jahren laufenden, vom Bundeslandwirtschaftsministerium geförderten Kooperationsprojektes entwickelt. Anilin wird dabei aus zuckerhaltigen Pflanzen wie Futtermais, Stroh oder Holz gewonnen. Erforscht wurde dabei zudem, wie sich dies in industriellem Maßstab anwenden lässt.

Nicht nur Covestro ist aktiv. Die chemisch-pharmazeutische Industrie in Deutschland will bis 2045 klimaneutral werden, Covestro bereits bis 2035. Eine große Herausforderung: Die Branche ist der größte CO2-Emittent in Europa, was einerseits am extrem hohen Energiebedarf liegt und andererseits daran, dass rund 90 Prozent aller chemischen Produkte Kohlenstoff beinhalten, der aus Erdöl, Erdgas oder Kohle stammt. Der Umstieg auf Biomasse ist daher ein Baustein in der Strategie der »Entfossilisierung«, wie es Walter Leitner vom Max-Planck-Institut für chemische Energiekonversion in Mülheim an der Ruhr ausdrückt. Kohlenstoff brauche es weiter, aber aus anderen Quellen. Biotechnologische Prozesse spielten dabei künftig eine große Rolle, es bestehe aber sehr viel Forschungsbedarf, sagte Leitner bei der Einweihung der Pilotanlage.

Die deutsche Chemieindustrie, die künftig auch Kohlenstoff aus Abgasen oder der Luft in großem Stil nutzen will, veranschlagt allein bei Biomasse ihren künftigen Bedarf auf bis zu 28 Millionen Tonnen pro Jahr. Aktuell sind es etwa 2 Millionen Tonnen, gut zehn Prozent der Rohstoffe für die stoffliche Nutzung. Die Branche selbst lobt, dass Biomasse im Unterschied etwa zu Erdöl ein nachwachsender Rohstoff ist. Bei der benötigten Menge sind Konflikte mit der Ernährung allerdings absehbar, die nicht allein damit zu lösen sind, dass nur Biomasse genutzt wird, wie Holz oder Pflanzenabfälle, die nicht für Lebensmittel geeignet sind.

»Ein technologischer Wandel in der Produktion wird nicht ausreichen, um die Netto-​Null-Ziele zu erreichen«, schreibt Paolo Gabrielli, Experte für Verfahrenstechnik, im »Zukunftsblog« der ETH Zürich. Auch mit Blick auf die weltweit prognostizierte starke Zunahme der Nachfrage nach Kunststoffprodukten müsse man »konsequent auf eine Kreislaufwirtschaft setzen«: mit langlebigen und wiederverwertbaren Produkten. Heute würden nur etwa 15 Prozent der Kunststoffabfälle dem Recycling zugeführt, wovon fast die Hälfte ebenfalls noch in der Müllverbrennung landen, weil entweder die spezifische Kunststoffart nicht wiederverwertet werden kann oder weil die Qualität zu schlecht ist.

Während sich Unternehmen wie Covestro in dieser Frage durchaus einsichtig zeigen, hört man eine weitere Forderung Gabriellis nicht so gerne: »Wir müssen auch die Nachfrage nach chemischen Produkten verringern.« Denn letztlich geht es bei der Transformation Richtung Nachhaltigkeit auch um Gewinninteressen. Innovative Prozesstechniken müssen sich rechnen, was unter anderem dann der Fall ist, wenn die Preise für Erdöl und Erdgas hoch bleiben. Auch dies regt Innovationen wie in Leverkusen an. Es ist daher mehr als eine technische Frage, ob das Bio-Anilin-Verfahren erfolgreich zur Marktreife geführt und die gesamte Produktion umgewandelt wird.

Dass die Anlage am Stammsitz in Leverkusen errichtet wurde, freut natürlich die Politik. Dies sei ein »deutliches Signal für einen zukunftsfähigen Industriestandort Nordrhein-Westfalen«, sagte Landeswirtschaftsministerin Mona Neubaur (Grüne). Sie versprach: »Wir sollten alles dafür tun, dass Sie bleiben.« Covestro-Vorstand Dreier ließ es sich nämlich nicht nehmen, bei der Veranstaltung einen Wunschzettel des Konzerns vorzutragen: wettbewerbsfähige Energie, staatliche Investitionen in Digitalisierung und Infrastruktur sowie schnelle Genehmigungsverfahren.

Das größte Thema in der Branche ist seit Jahren die künftige »Chemie 4.0«, die auf Digitalisierung, Ressourceneffizienz und Nachhaltigkeit bis in die Lieferketten setzt. Eine Abwanderung aus Deutschland in Billiglohnländer mit geringen Umweltstandards und niedrigen Steuern ist da nicht das Thema. Es geht um Standorte, die Innovationen wie das neue Bio-Anilin-Verfahren fördern. Dieses zeigt aber auch: Die Transformation steckt erst in den Kinderschuhen.

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