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»Gestaltung und Veränderung«: Ein Buch voller Leerstellen
In seinen Erinnerungen an die 70er und 80er Jahre umgeht Egon Krenz seine persönliche Verantwortung für die DDR-Politik
Warum trägt Teil zwei der Erinnerungen von Egon Krenz den Titel »Gestaltung und Veränderung«? Was hat der Autor denn gestaltet und verändert? Er war im obersten SED-Zirkel zuständig für Sicherheit und Verteidigung, für Staat und Recht, für Jugend und Sport. Zu dieser seiner konkreten Verantwortung schreibt er fast nichts. Weder zu seinen Zielen und Absichten, zu Erfolg oder Misserfolg, zu Enttäuschungen oder Irrwegen. Es geht fast ausschließlich um sein Verhältnis zu Erich Honecker, also um seine Karriere und die sie beeinflussenden Störungen seitens seiner »Kollegen« oder »Freunde« oder »Genossen«. Nur seine Ideale waren und sind bis heute unerschütterlich: Er denkt immer noch im »Thälmann‘schen Geist«, die Sowjetunion ist seine zweite Heimat und die DDR sein »Unikat von bleibender Bedeutung«. Noch heute ist er stolz, dass sie 40 Jahre durchgehalten hat. Mit Marx und Engels hat er nicht mehr viel am Hut.
Jetzt hofft er auf den Kommunismus, den uns China bringen wird. Dafür bekommt er auf Lesungen Beifall und merkt gar nicht, wie respektlos er sich gegenüber den früheren FDJ- und SED-Mitgliedern verhält, die nicht so jauchzen wie er über das, was früher »unsere DDR« war, die ihre täglichen Sorgen und Ärger hatten und irgendwann dann auch die ganze Gängelei seitens der Partei, des Staates und der FDJ und das Gerede vom Sozialismus satthatten. Da labt er sich wohl immer noch in dem von ihm organisierten Jubel auf FDJ-Vorbeimärschen wie 1979, als er auf der Karl-Marx-Allee Jubel und Sprechchöre über Lautsprecher manipulativ einspielen ließ.
Eberhard Aurich, Jahrgang 1946, war von 1983 bis zur Wende 1989/90 Erster Sekretär der DDR-Jugendorganisation FDJ und in dieser Funktion Nachfolger von Egon Krenz. Als führender Jugendfunktionär gehörte er auch dem SED-Zentralkomitee, dem DDR-Staatsrat und der Volkskammer an.
2019 erschien sein Buch »Zusammenbruch. Erinnerungen, Dokumente, Einsichten«. Egon Krenz’ Buch »Gestaltung und Veränderung«, Teil zwei seiner Autobiografie, auf das sich Aurich in diesem Beitrag bezieht, wurde kürzlich im »nd« besprochen und bei einer Veranstaltung mit Krenz im nd-Gebäude FMP1 am Berliner Franz-Mehring-Platz vorgestellt.
Angeblich hätten laut Krenz immer wieder Studien des Zentralinstituts für Jugendforschung Leipzig bewiesen, dass die Jugend treu zur DDR stand. Warum befahl er aber dann den Wenigen, die Zugang zu diesen Aussagen hatten (ich gehörte dazu), diese in ihre Panzerschränke einzuschließen und nichts daraus verlauten zu lassen? Im Januar 1988 stellte allerdings Prof. Dr. Walter Friedrich, der Leiter des Leipziger Instituts, auf einer von mir nun schon ohne Wissen von Krenz anberaumten Versammlung im Zentralrat der FDJ einen »zunehmenden Trend der Betonung der Selbstständigkeit, der persönlichen Unabhängigkeit, der Individualität« fest. Er verwies auf eine »tendenzielle Abschwächung des Engagements, des Interesses an politischen Zielen und Aufgaben, so wie sie vermittelt werden«.
Wenn ich allerdings solche Einschätzungen und Wertungen an meinen »Vorgesetzten« Egon Krenz schickte, bekam ich als Antwort: »Lieber Eberhard! Ich halte es für notwendig, dass immer wieder die eigene Verantwortung der Funktionäre des Zentralrats, der Bezirks- und Kreisleitungen betont wird. Der Verweis darauf, dass andere noch weniger mit der Jugend reden, ist wenig produktiv.« Gleichzeitig bestellte er mich dann zu einer Aussprache ins ZK. Da nahm er seine Verantwortung auf die ihm eigene Art wahr, die er jetzt in seinem Buch verschweigt.
Wie schon im Buch »Wir und die Russen« offenbart er Details aus dem Dauerkonflikt mit der sowjetischen Führung, den er uns in der FDJ-Führung damals natürlich im Interesse seiner Freundschaft zur Sowjetunion verbarg. Hätte es die DDR gerettet, wenn die Russen Erich Honecker hätten machen lassen, was ihm geradeso so bei der Jagd oder im Kontakt mit Westpolitikern einfiel?
Einen zentralen Knick in der DDR spart Krenz völlig aus, er hat ihn offensichtlich gar nicht verstanden: 1976 korrigierte die SED auf Befehl von Breshnew endgültig das Reformkonzept von Ulbricht, seine Vorstellung von der eigenständigen Gesellschaftsformation Sozialismus wurde mit einem neuen Parteiprogramm entsorgt. Jetzt sollte es nahtlos bald zum Kommunismus gehen. Das hatte verheerende Auswirkungen auf die Jugend. Die sollte nämlich nicht mehr bloß sozialistisch, sondern nun kommunistisch erzogen werden. Keiner wusste eigentlich, was außer Parteitreue damit gemeint war.
Krenz feiert das in seinem Buch, indem er über die von ihm initiierten roten Halstücher der Pioniere jubelt. Und die im gleichen Jahr folgende Biermann-Ausbürgerung war seiner Meinung nach natürlich ein »Fehler«, der angeblich auch im Politbüro umstritten war. Kein Wort darüber, dass uns danach die besten Künstler verließen und kein Wort von ihm, welche Treueschwüre gegenüber dieser Entscheidung der Parteiführung er da von den FDJ-Funktionären verlangte. Und dass die DDR zu dieser Zeit eine eigenständige deutsche Nation werden sollte, sogar die Verfassung der DDR deshalb geändert wurde, auch dazu kein Wort. Egon Krenz hatte sogar den kühnen Einfall, für die DDR-Nationalhymne einen neuen Text schreiben zu lassen. Wenigstens das hat dann Honecker verhindert.
Was war das doch für eine tolle Mannschaft da oben, die auch ich als ZK-Mitglied 1981 und 1986 mit gewählt habe. Man muss die Politbüromitglieder Mittag, Schabowski, Mielke, Stoph, Krolikowski, Kleiber nicht mögen, aber die »Nachrufe« (alle Betroffenen sind schon tot!) von Krenz sind nur unanständig. Warum hat er nicht den Aufstand geprobt, wenn das in seinen Augen alles nur Dumme und Karrieristen waren? Noch Ende Oktober 1989 hat er mich angebrüllt, nur weil ich gefordert hatte, dass einige aus dieser Truppe zurücktreten sollen: Ich hätte keinen Respekt vor den antifaschistischen Widerstandskämpfern!
Als Sekretär des ZK war er auch für die Jugendpolitik der SED zuständig. In diesem Buch gibt es keinen Beleg dafür. Warum schreibt er nichts über die Jugend und die FDJ? Als FDJ-Chef von 1974 bis 1983 initiierte er das zentrale Jugendobjekt »Drushba-Trasse« und die »FDJ-Initiative Berlin«. Tausende machten sich aus ihren Heimatorten auf den Weg nach Berlin oder in die Sowjetunion. Die FDJ schickte Brigaden der Freundschaft nach Afrika und Lateinamerika. Hat er diese engagierten jungen Leute alle vergessen? Die FDJ organisierte schon in seiner Zeit Freundschaftstreffen mit Jugendlichen aus den sozialistischen Ländern und half Kuba 1978, wunderbare Weltfestspiele der Jugend und Studenten vor den Toren der USA auszurichten.
1982/1983 fanden auch Demonstrationen in der DDR gegen den Nato-Raketenbeschluss statt. 1987 organisierte die FDJ das weltgrößte Friedensseminar von kommunistischen und sozialdemokratischen Jugendverbänden aus aller Welt und fand der Olof-Palme Friedensmarsch quer durch die DDR statt. Die FDJ knüpfte als erste 1986 wieder Kontakte hin nach China. Alles vergessen? Warum gesteht er nicht ehrlich, dass er mit Schuld daran trägt, dass die Statistiken der FDJ kaum der Wahrheit entsprachen und Versuche, ehrlicher Erfolg und Misserfolg auszuweisen, von ihm missbilligt wurden? Und warum schreibt er nichts darüber, dass er das »Forum«, die Zeitung für geistige Probleme der Jugend, 1983 endgültig verbot? Warum musste man am Morgen als FDJ-Chef besorgt auf einen Anruf von Egon warten, um seine Kritik an der aktuellen Ausgabe der »Jungen Welt« zu vernehmen oder um seine Frage zu beantworten, warum die Zeitschrift »Neues Leben« wieder einmal so viele Nackte und andere wenig prüde Artikel abgedruckt hat.
Warum untersagte er mir 1984, den ehrlichen Defa-Film »Erscheinen Pflicht« zum Jugendfestival zu zeigen? Und warum diktierte er einen Verriss des Films »Insel der Schwäne«? Die Kritik des Anti-Stalin-Films »Die Reue« hält er heute noch für richtig. Auf seine Antwort, ob wir einen kritischen Brief von Hermann Kant 1989 in der »Jungen Welt« abdrucken sollten, warte ich bis heute, was ihn nicht davon abhält, in der »UZ« (Unsere Zeit“) zu behaupten, der Abdruck sei mit seinem Zutun geschehen. Dabei hatten dies der Chefredakteur und ich am Abend des 7. Oktober im Palast der Republik aus Wut ohne seine Zustimmung entschieden.
Egon Krenz war von 1974 bis 1989 in unterschiedlichen Funktionen mein Vorgesetzter, 1. Sekretär des Zentralrats der FDJ, Mitglied des Politbüros und Sekretär des Zentralkomitees, aber nicht mein Freund. Ich gehörte nicht zu den »Fans von Krenz«. Er war der Meinungsdominator, hörte nur selten wirklich zu, deklamierte lieber in Phrasen, egal ob auf Zentralratstagungen, Jugendforen oder der FDJ-Kulturkonferenz. Zeitweise meinte er zu mir, ich sei wohl nicht richtig dabei und ließ offen, was er damit meinte. Er rüffelte uns im Zentralrat, wenn wir seiner Meinung nach nicht richtig gekleidet waren oder sein früheres Arbeitszimmer ein wenig umbauten.
Er verlangte von uns im Zentralrat vasallenhafte Treue zu Erich Honecker. Er achtete sehr darauf, dass die FDJ Honecker keinen Anlass bot, sie und damit auch Egon zu kritisieren. Als die »Junge Welt« 1988 fragte, warum wir in der FDJ Blauhemd tragen, war das schon ein Grund, an der Treue der FDJ-Führung zu zweifeln. Als ich 1987 in einem Artikel in der »Jungen Welt« an die Arbeiter erinnerte, die die Krupp-Villa Hügel in Essen gestürmt hatten, und dies mit den schlesischen Webern verglich, kritisierte er nicht meine illusionären Vorstellungen von Sozialismus, sondern meinte, dass Erich Honecker in schlechtes Licht gerate, nur weil dieser dort kurz zuvor gemeinsam mit den Kapitalisten gespeist hatte. Hat er jetzt Angst vor uns, die wir noch leben und ihm in seinen wertenden Erinnerungen widersprechen könnten?
1982 hat er gemeinsam mit Wolfgang Herger die Endfassung der »Geschichte der FDJ« bis 1979 redigiert. Kein Wort von ihm dazu, was darin Wahrheit ist, was Schönfärberei oder Lobhudelei auf Honecker. Ich hatte jedenfalls bereits 1988 eine weitere Auflage untersagt. Selbst unsere Versuche, in den 80er Jahren ihren kulturellen Wünschen und Vorstellungen der Jugendlichen mehr entgegenzukommen, spielen in seinem Buch keine Rolle. Dabei war er doch selbst in Berlin-Weißensee auf den Rockkonzerten zu Gast. Er war es aber auch, der die von ihm 1983 versprochene, schon 1984 verworfene, von uns in der FDJ aber nach dem Honecker-Besuch in der BRD bereits komplett vorbereitete Lindenberg-Tournee der FDJ 1988 endgültig verbot.
Er war es, der mich 1988 aufforderte, vom Ministerium für Kultur das Verbot sowjetischer Filme zu fordern, was ich energisch abgelehnt habe, was ihn nicht hinderte, trotzdem für das Verbot zu sorgen. Unsere kritischen Meinungen zum »Sputnik«-Verbot hat er wenigstens Honecker wissen lassen. Er war es aber auch, der 1988 von mir verlangte, den Kulturminister Hoffmann auf der damaligen ZK-Tagung wegen seiner Konvergenz-Gedanken in einer westdeutschen Theaterzeitschrift anzugreifen. Das ist ihm alles keine selbstkritische Erinnerung wert. Die Liste könnte ich fortsetzen.
In meinem Buch habe ich mich 2019 mit der Frage beschäftigt, warum der Sozialismus in der DDR zusammenbrach. Mich würde schon die Meinung von Krenz zu meinen Argumenten interessieren. Ich habe da die Auffassung vertreten, dass es nicht an den Personen lag, die regiert haben, sondern es gewichtige objektive Gründe gab. Der Meinung bin ich nach dem Lesen des Buches von Krenz immer noch. Krenz will aber offensichtlich das Gegenteil beweisen. Das gelingt ihm wohl sogar, denn mit dieser Führung war nichts mehr zu retten. Merkt er aber gar nicht, welches Urteil über die DDR er damit bestätigt?
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