Frauen in der DDR: Als ganzer Mensch leben zu wollen

Über Beitrittsbürgerinnen und die Frauenfrage – Zahlen und Fakten

  • Ursula Schröter
  • Lesedauer: 5 Min.
Nicht nur Traktoren steuerten Frauen in der DDR, auch Lokomotiven, Busse, Taxis – in der alten BRD undenkbar; Aufnahme von 1975.
Nicht nur Traktoren steuerten Frauen in der DDR, auch Lokomotiven, Busse, Taxis – in der alten BRD undenkbar; Aufnahme von 1975.

Als die DDR der Bundesrepublik Deutschland beitrat, wurde sehr schnell sichtbar, dass sich das Frauenleben in den vier DDR-Jahrzehnten mehr verändert hatte als das Männerleben. Die Unterschiede zwischen Ostfrauen und Westfrauen waren groß, als sie sich 1990 gegenüberstanden und die Hände hätten reichen können.

Zwei Zahlen fielen damals besonders auf: Erstens betrug der Anteil der Berufstätigen und Lernenden an allen DDR-Frauen des entsprechenden Alters reichlich 90 Prozent. Das heißt, die hauptamtliche Hausfrau gab es so gut wie nicht mehr. DDR-Frauen trugen zum Zeitpunkt des Beitritts zu mehr als 40 Prozent zum Haushaltseinkommen bei (BRD-Frauen zu weniger als 20 Prozent). Zweitens betrug auch die Mütterrate in der DDR Ende der 80er Jahre reichlich 90 Prozent. Das heißt, fast alle Frauen hatten am Ende ihrer fertilen Phase mindestens ein Kind. Die »gewollte« Kinderlosigkeit, vor allem bei hoch qualifizierten Frauen, die in allen westlichen Ländern beklagt wurde, gab es in der DDR nicht.

Aus Kinderwunsch-Befragungen der 70er und 80er Jahre geht hervor, dass sich die jungen DDR-Menschen in hohem Maße ihre individuellen Kinderwünsche erfüllten. Und die lagen mehrheitlich und ohne Berücksichtigung der bevölkerungspolitischen Vorgaben bei zwei Kindern. Selbstverständlich, dass eine solche Entwicklung öffentliche Kinderbetreuung voraussetzt. Ende der 80er Jahre lag die Betreuungsquote der Drei- bis Sechsjährigen bei 95 Prozent und der bis Dreijährigen bei 80.

Gleichwohl war die anfängliche Begeisterung der DDR-Menschen für das Ende ihres Staates groß – für die D-Mark, für Reisefreiheit, für liberale Demokratie, für kapitalistische Produktionsverhältnisse … Im April/Mai 1990 signalisierten, das belegen unterschiedliche Bevölkerungsbefragungen, etwa 80 Prozent ihr Einverständnis mit den gesellschaftlichen Umbrüchen, Männer und Frauen gleichermaßen.

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Das änderte sich schnell – zuerst und vor allem bei Frauen, wohl weil die plötzlich einsetzende Arbeitslosigkeit zunächst zu zwei Dritteln Frauen betraf und weil meist noch vor dem Arbeitsplatz die sozialen Dienste im Betrieb (Kinderbetreuung, Einkaufsmöglichkeiten, Mittagessen-Versorgung usw.) »abgewickelt« wurden. Die Jüngeren reagierten mit Gebärstreik, viele auch mit Wanderung in die westlichen Bundesländer. Mehr als drei Millionen Ostdeutsche zogen nach 1990 in den Westen – wie vor dem Mauerbau überwiegend junge und gut ausgebildete, anders als vor dem Mauerbau überwiegend Frauen.

Inzwischen ist das Wanderungsgeschehen zur Ruhe gekommen und sind Ostdeutsche herangewachsen, die die DDR nur aus Erzählungen kennen. In wenigen Jahren wird die neue größere Bundesrepublik so alt sein, wie die DDR geworden ist. Umso erstaunlicher, dass Spuren der DDR-Frauenpolitik noch immer zu erkennen sind.

Zunächst ein Blick auf die Mütterrate. Wie reagieren Ostdeutsche in dieser Hinsicht auf eine Gesellschaft, in der der Bedarf an öffentlicher Kinderbetreuung (wie im jüngsten Regierungsbericht zum Stand der deutschen Einheit wieder hervorgehoben wurde) deutlich über dem Angebot liegt? 2022 erreichte lediglich Thüringen für Drei- bis Sechsjährige eine Betreuungsquote von 92 Prozent. Alle anderen Bundesländer, insbesondere die westlichen, sind diesbezüglich weit entfernt vom DDR-Niveau.

Dennoch ist die »gewollte« Kinderlosigkeit eher ein Westproblem, jedenfalls bisher. So betrug 2018 die Mütterrate im Osten zwar nicht mehr 90 Prozent, aber in Thüringen 87 und in Brandenburg 84 (die anderen ostdeutschen Länder liegen dazwischen), während sich die Skala in den westlichen Ländern vom Saarland mit 81 Prozent bis Hamburg mit 69 Prozent erstreckt. Die Expert*innen in der demografischen Forschung halten sich allerdings mit Trendaussagen bei diesem Thema zurück. Kann schon sein, dass auch im Osten Kinderlosigkeit zunehmen wird. Bezüglich des Alters der Mutter bei der Geburt des ersten Kindes (30 Jahre und älter) gibt es jetzt schon kaum Ost-West-Unterschiede. Zur Erinnerung: In den 70er Jahren waren DDR-Frauen im Durchschnitt 22 Jahre alt (BRD-Frauen 25 Jahre), wenn das erste Kind geboren wurde.

Im Unterschied dazu ist ein Trend hinsichtlich weiblicher Berufstätigkeit klar erkennbar. Noch immer gibt es im Osten die hauptamtliche Hausfrau so gut wie nicht. Der zweite Gleichstellungsbericht der Bundesregierung von 2017 hält dazu fest: »Im Unterschied zur Mehrheit der Frauen in Westdeutschland scheinen Frauen in Ostdeutschland das Alleinernährer-Arrangement abzulehnen.« Richtig ist, sie lehnen es ab und scheinen auch Frauen in Westdeutschland damit zu beeindrucken. So ergab eine Untersuchung des DIW von 2020: »In der DDR sozialisierte Menschen, die nach Westdeutschland gezogen sind, haben vermutlich Einstellungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Westdeutschland beeinflusst.«

Deshalb beträgt die Erwerbsquote (eine Kennziffer, die es in der DDR nicht gab und die auch Arbeitslose umfasst) der Frauen 2020 im Osten 80 Prozent und im Westen immerhin 77. Hier ist zu berücksichtigen, dass die weibliche Erwerbstätigkeit (auch ein Begriff, den es in der DDR nicht gab, weil es bei der Berufstätigkeit nicht nur um den Erwerb ging) in Ost und West unterschiedlichen Umfang hat. Im Westen sind derzeit mehr als 15 Prozent der erwerbstätigen Frauen ausschließlich geringfügig beschäftigt, im Osten deutlich weniger. Dennoch gilt: Das Alleinernährer-Arrangement wird auch von Frauen in Westdeutschland immer häufiger abgelehnt, vor allem in den Regionen, in denen sich Ost und West direkt begegnen können.

Die Zahlen und Fakten können unterschiedlich interpretiert werden. Für mich enthalten sie die Aufforderung, erneut kritisch über das Konzept nachzudenken, nach dem der Sozialismus des 20. Jahrhunderts funktionieren sollte. Dass die Frauenfrage Teil der Klassenfrage ist, wie die Werke von Friedrich Engels und August Bebel nahelegen, lässt sich auf Grundlage der aktuellen Zahlen zur weiblichen »Erwerbsneigung« nicht belegen. Denn wir haben kapitalistische Klassenverhältnisse; auch im Osten, nachdem die Treuhand mehr als 95 Prozent des DDR-Volkseigentums privatisiert bzw. liquidiert hatte.

Die Frauen aber bleiben bei ihrem im Sozialismus erworbenen »radikalen Anspruch, als ganzer Mensch leben zu wollen«, wie Christa Wolf 1977 mit Blick auf Maxi Wanders Protokollband geschrieben hatte. Bereits in den 80er Jahren wies die 2013 verstorbene österreichisch-amerikanische Historikerin und Kommunistin Gerda Lerner nach, »dass die Engels’sche Gleichsetzung der Geschlechterbeziehungen mit einem ›Klassenantagonismus‹ eine Sackgasse gewesen ist, die die Theoretiker (sic) lange an einem adäquaten Verständnis der Unterschiede zwischen Klassenbeziehungen und Geschlechterbeziehungen gehindert hat«.

Inzwischen leben wir in einer kriegstüchtigen Welt, die eine neue Utopie bitter nötig hat. Eine Utopie, die sich heute nicht nur auf die Arbeiterbewegung beziehen darf, die die Ansprüche aller Menschenrechtsbewegungen und ihre Zusammenhänge reflektieren muss.

Dr. Ursula Schröter ist Mathematikerin und Soziologin und hat zahlreiche Publikationen zum sozialistischen Patriarchat veröffentlicht, vgl. auch »Fragen zur Systemfrage« in der Zeitschrift »Luxemburg« 4/2022.

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