• Politik
  • »Public Housing« in Singapur

Hauptsache Nachbarschaft

Singapur hat die Wohnungsnot mit Eigentum vom Staat gelöst. Dabei wird nichts dem freien Markt überlassen

  • Saskia Guntermann und Michael Marek, Singapur
  • Lesedauer: 7 Min.

Es ist schwül und heiß, 30 Grad Celsius schon um 10 Uhr morgens. Die Luftfeuchtigkeit liegt bei heftigen 90 Prozent. Trotzdem sind wir zu Fuß im Stadtteil Tanjong Pagar unterwegs: ein multikulturelles Viertel im Süden Singapurs mit vielen Restaurants und buntem Nachtleben. Um uns herum: 30- bis 40-stöckige Wohnhäuser.

Hier lebt und arbeitet Pei Shyuan Yeo. Die Architektin bietet Touren durch Singapur an und zeigt Interessierten auch ihr eigenes Wohnviertel. Was unübersehbar ist: Nicht nur hier überwiegen Hochhäuser, die alle rechtwinklig angeordnet und in modularer Bauweise errichtet wurden, also aus vorgefertigten, standardisierten Bauelementen. »Die Leute nennen das Keksausstecher-Architektur«, sagt Yeo, ähnlich wie bei einem Keksausstecher, »mit dem man wiederholt die gleiche Form aus einem Teig sticht.«

Wir sitzen mit Pei Shyuan Yeo im Café eines solchen Hochhauses. Bei einer Tasse Chrysanthementee erklärt sie: Obwohl Häuser und Wohnungen oft einförmig und nach dem gleichen Muster gestaltet seien, erfreuten sie sich bei den Singapurern großer Beliebtheit. Wie viele andere Einwohner des Stadtstaates besitzt auch Shyun Yeo eine eigene Wohnung, die sie für 99 Jahre vom Staat gepachtet hat. Nichts Ungewöhnliches in Singapur, Public Housing nennt sich das System.

Singapurs Wohnungs- und Immobilienmarkt ist einer der teuersten der Welt. Trotzdem müssen die Singapurer keine Großverdiener sein, um eine Immobilie vom Stadtstaat zu erhalten. Dank staatlicher Zuschüsse und einer sozialen Staffelung setzen Erstkäufer weniger als ein Viertel ihres Einkommens für eine monatliche Rate ein. In Deutschland ist das manchmal schon die Hälfte. Das Schlüsselkonzept, das Singapur seit Jahrzehnten verfolgt, ist das »Housing and Development Board«: eine staatliche Behörde, die für den Bau und die Verwaltung öffentlicher Wohnungen verantwortlich ist.

In den 60er Jahren besaß weniger als einer von zehn Einwohnern eine öffentlich geförderte Eigentumswohnung. Die meisten lebten in überfüllten Häusern oder in ländlichen Gebieten mit schlechten sanitären Einrichtungen und ohne fließendes Wasser. Als die Behörde für sozialen Wohnungsbau gegründet wurde, um die schlechten Wohnverhältnisse zu bekämpfen, suchte man nach Alternativen zum konventionellen Mietwohnungsmodell und entschied: Singapur sollte zu einer Gesellschaft von Wohnungseigentümern werden. Jedem Bürger sollte ein Teil des Landes gehören. Heutzutage hat der Stadtstaat eine der höchsten Wohneigentumsquoten der Welt.

Knapp 90 Prozent aller Singapurer haben eine solche Eigentumswohnung mit staatlicher Hilfe erworben, um so dem Problem hoher Mieten zu entgehen. Das System des Public Housing funktioniere, hier lebten Arme und Reiche nebeneinander, sagt Pei Shyuan Yeo. »Die Regierung will nicht, dass Leute Häuser und Wohnungen kaufen, um mit ihnen zu spekulieren.« Die Idee des öffentlich geförderten Wohneigentums sei, »dass du in der Wohnung lebst und nicht, dass du Geld damit verdienst«.

Das ist auch einer der Gründe, warum Airbnb in Singapur verboten ist. Öffentlich geförderte Eigentumswohnungen dürfen nicht vermietet werden. Gleichzeitig wird der Spekulation ein Riegel vorgeschoben. Eine Nation der Immobilienbesitzer habe schließlich bessere Aussichten auf stabile Verhältnisse als ein Land der Mieter, so Yeo. Und: Würden Wohnungen auf Eigentumsbasis verkauft werden, gäbe es nicht genügt Land, um neue Wohnungen zu bauen. Eine gespaltene Gesellschaft entstünde zwischen denen, die eine Immobilie besäßen, und denen, die keine hätten.

Singapur ist ein Land so groß wie die Freie und Hansestadt Hamburg, aber mit dreimal soviel Einwohnern. Die meisten Menschen sind älter als der Stadtstaat selbst, der 1965 unabhängig von der britischen Kolonialherrschaft wurde. Es ist ein Land, das Wohlstand erlangt hat. Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt lag 2022 bei 82 000 US-Dollar, Singapur gilt damit als eines der reichsten Länder weltweit.

Laut Transparency International gehört es zu den am wenigsten korrupten Staaten der Welt. Gleichzeitig besteht in Singapur seit seiner Unabhängigkeit von Großbritannien gewissermaßen eine Ein-Parteien-Herrschaft – trotz demokratischer Wahlen. Die Organisation Reporter ohne Grenzen führt Singapur nur an Stelle 129 von 180 Staaten, selbst Simbabwe, Haiti, Mali und Katar liegen noch vor Little Red Dot, dem kleinen roten Punkt auf der Landkarte, wie die Singapurer gerne über ihr Zuhause sagen. Die Medien werden autoritär gelenkt, viele Journalisten üben Selbstzensur. Online-Nachrichtenportale werden überwacht und benötigen eine staatliche Lizenz. Kritische Blogger und Journalisten werden mit Verleumdungsklagen oder Vorwürfen wie »Störung der öffentlichen Ordnung« zum Schweigen gebracht. Und es gibt die Todesstrafe. Für den Handel von Rauschgift wurden 2022 und 2023 wieder Menschen hingerichtet. Das alles wird von Amnesty International immer wieder kritisiert.

Gleichzeitig ist Singapur ein Schmelztiegel verschiedener Kulturen, Religionen und Ethnien, und das Zusammenleben gelingt – auch durch die staatlich gelenkte Wohnraumpolitik. Beim gemeinsamen Gang durch den Hochhauskomplex fällt auf: Überall gibt es gepflegte und liebevoll angelegte Grünflächen und Blumenbeete, alles wirkt renoviert, nirgendwo liegt Unrat herum. Die glatten Fassaden sind frisch gestrichen, Graffiti sucht man vergeblich. Diese sind in ganz Singapur streng verboten, ebenso das Wegwerfen von Kaugummis oder Zigaretten.

In den langen Häuserfluren hängen Nachbarn ihre Wäsche auf, man sieht ältere und jüngere Leute miteinander plaudern; statt Wohnungen befinden sich im Erdgeschoss eines »Keksausstechers« öffentliche Begegnungsstätten oder wie hier Geschäfte für den Alltag: Bäckerei, Friseur, Restaurant und Supermarkt. Man kann Dinge einkaufen, ohne mit dem Auto fahren zu müssen. Die nächste Bus- oder U-Bahnstation ist drei Minuten entfernt, so hat es die Regierung vorgeschrieben. Sozialer Wohnungsbau geht mit örtlicher Infrastruktur Hand in Hand.

In Gehweite bietet auch diese Anlage alles, was Menschen zum Leben brauchen: Schulen, Kindergärten und medizinische Versorgung. Das Phänomen der »vergessenen Toten« wie in Europa, wo ältere Menschen manchmal tage- oder wochenlang unentdeckt in ihren Wohnungen liegen, kenne man in Singapur nicht, sagt Yeo stolz.

»Dazu gehört auch die Politik der ethnischen Integration«, sagt Wong Hong Kuan vom Ministerium für Nationale Entwicklung. »Wir wollen die soziale Interaktion fördern, indem wir unsere Wohnviertel ethnisch durchmischen, um vielfältigere Gemeinschaften zu schaffen.« Und das heißt: Chinesen, Malaien, Inder und andere Ethnien werden nach einem staatlich festgelegten Schlüssel auf die Stadt- und Wohnviertel verteilt. So gibt es keine Ghetto-Bildung. Eigentumswohnungsbau als Laboratorium der Gesellschaft? »Das stärkt den sozialen Zusammenhalt und beugt der Verslumung vor«, ist sich Herr Kuan sicher.

Das System des Public Housing ist gleichwohl alles andere als perfekt: Die Regierung verbindet den Zugang zu den günstigen Wohnungen mit antiquierten gesellschaftspolitischen Vorstellungen – und stößt damit auch auf Kritik. Denn der Staat greift damit in das Privatleben der Bürger ein. Junge Paare müssen verheiratet sein, um eine Public-Housing-Wohnung erwerben zu können. Singles unter 35 haben praktisch keine Chance auf ein staatlich gefördertes Zuhause – ebenso wenig wie Alleinerziehende unter dieser Altersgrenze.

»Meine Haustür steht eigentlich immer offen«, erklärt uns Keith Ng. Am Ende unserer Nachbarschafstour besuchen wir den jungen Mann in seiner Eigentumswohnung mit drei Zimmern im 19. Stock. »Meine Nachbarn sind mir wichtig – zwei ältere Leute. Wir kaufen für uns gegenseitig ein. Das nennen wir Kampong, ein malaiisches Wort, das traditionell ein Dorf oder eine ländliche Siedlung beschreibt. Wir haben diesen schönen Sinn für eine enge soziale Bindung.«

Drinnen ist es gemütlich, große Fenster sorgen für Licht. Wir sitzen in der Küche, Mutter und Freundin kümmern sich um das Essen – eine offene, freundliche Atmosphäre. Keith Ng hat vor einigen Jahren in Belgien und Deutschland gelebt, zurzeit betreibt er eine eigene Internetfirma. Das Leben in Europa sei langsamer, findet Keith, in Singapur gehe es viel atemloser und reglementierter zu.

Auch gleichgeschlechtliche Paare könnten frühestens mit 35 eine staatlich geförderte Eigentumswohnung erwerben, sagt Keith. Solche Partnerschaften werden in dem konservativen Land vom Staat allerdings offiziell nicht anerkannt. 2021 wurden einige Regelungen noch verschärft. Bei Wohnungen in besonders zentralen Lagen sind unverheiratete Personen künftig unabhängig vom Alter ausgeschlossen – Ausnahmen sind Singles, die mit Eltern und Geschwistern zusammenleben. Da habe er Glück gehabt, als er vor Jahren seine Wohnung kaufen konnte, sagt Keith. Seine Dreizimmerwohnung liegt in einem der oberen Stockwerke. Er sei leidenschaftlicher Fahrradfahrer und sein Bike stehe immer auf dem Hausflur.

Zum Abschied gibt es eine Umarmung – und noch einen letzten Hinweis: Trotz der Erfolge des öffentlichen Wohnungsbaus stehe das Land vor neuen Herausforderungen, sagt er. Die zunehmende Überalterung der Bevölkerung stelle das Wohneigentumsmodell auf die Probe. Der Grund: Die Älteren hätten Bedürfnisse, die erst noch berücksichtigt werden müssten. Die Regierung sei gefordert, barrierefreie Wohnungen und eine altersgerechte Infrastruktur zu schaffen. Das allerdings gilt nicht nur für Singapur.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal