Die Wirklichkeit überholen

Die Heiterkeit im Grauen: Julia Josts Debütroman »Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht«

  • Luca Glenzer
  • Lesedauer: 4 Min.

Und wenn die Wirklichkeit dich überholt, hast du keine Freunde, nicht mal Alkohol», heißt es in einem alten Lied der Fehlfarben auf ihrer ersten Platte 1980. Man kann den Spieß aber auch umdrehen und die Wirklichkeit überholen: mit Fantasie, Übertreibung und Verweigerung. Dafür entscheidet sich die Protagonistin J. in Julia Josts Debütroman «Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht».

J. wächst in Gratschbach auf, einem fiktiven Ort in Kärnten, dem südlichen Zipfel Österreichs. Inmitten einer malerischen Landschaft – der Karawanken – liegt dort der Gratschbacher Hof, den der Vater einst günstig erworben hat, und nun mit seiner fünfköpfigen Familie bewohnt. Doch eine Vorzeigefamilie ist dem Vater trotz seiner allerorts angesehenen unternehmerischen Tätigkeit inmitten des erzkonservativen Dorfes nicht vergönnt: Sohn Johann – genannt Hanni – etwa trägt seine Haare lang und ist ein sensibler Romantiker. Und seine rebellische Tochter, die elfjährige Protagonistin J., spielt liebend gern Fußball, wäre eigentlich lieber ein Junge und bevorzugt dementsprechend kurze Haare.

J. erzählt dabei eine Art Coming-of-Age-Geschichte, während sie versteckt unter einem Lkw liegt und von dort das Treiben der Erwachsenen beobachtet. Die Geschichte beginnt mit ihrem Klassenkameraden Franzi, der einstmals von einem Priester sexuell missbraucht wurde. Statt dass der Priester aus seinem Amt entlassen wird, muss die Familie daraufhin nach Gratschbach umziehen. Nun, in der neuen Dorfgemeinschaft, ist Franzi bemüht, sich als Neuankömmling ein gewisses Standing zu erarbeiten. Und so entschließt er sich eines Nachmittags, als eine Art Mutprobe in einen Brunnen zu klettern, um einen alten SS-Dolch zu bergen, der dort zuvor hineingefallen war. Doch der Versuch misslingt, und Franzi kann nur noch tot aus dem Brunnen geborgen werden.

Immer wieder kehrt die Erzählerin im Laufe des Buches zu diesem Ereignis zurück, steht es doch exemplarisch für die Unschuld junger Heranwachsender in einer von Erwachsenen korrumpierten Umwelt, in der das sadistische Grauen der NS-Herrschaft auch 50 Jahre nach dessen formalem Ende noch immer fortwirkt.

Von außen betrachtet hat J. kein einfaches Schicksal: Als querstehendes Kind, das von seiner Umwelt in Rollen gezwängt wird, die es nicht auszufüllen vermag. So soll J. trotz ihres offensichtlich fehlenden Talents und mangelnder Motivation regelmäßig zum Klavierunterricht gehen, weil ihre aus einfachen Verhältnissen stammende Mutter darin offensichtlich einen von vielen Hebeln sieht, den man bedienen muss, um dem fernen Ziel einer bürgerlichen Lebensform ein Stück näher zu kommen.

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Doch zum Glück ist da das Nachbarskind Luca, ein aus Bosnien stammendes Mädchen und Komplizin von J. Die beiden verbindet eine zärtliche Beziehung, die sich in oft subtilen Details widerspiegelt: Spielen die beiden etwa Fangen, zählt Luca auf Deutsch, J. jedoch auf Bosnisch. Ihre großen Gefühle füreinander werden dabei zugleich von großer Unsicherheit begleitet. Herzzerreißend etwa ist es, als J. Luca nach einem flüchtigen Kuss trotz bestehender Sprachbarrieren mit Händen und Füßen vermitteln möchte, dass sie doch kein Junge sei und sich ihr gegenüber schließlich in großer Not entblößt, um ihre körperlichen Merkmale offenzulegen.

Julia Josts Erzählstil ist dabei über weite Strecken furios, sprachgewaltig, herausfordernd wie höchst unterhaltsam. Ihr von Sarkasmus geprägter Humor erinnert dabei ebenso an die Geschichten Elfride Jelineks wie die im Buch enthaltenen Motive, von unreflektiertem Postfaschismus, Geltungssucht und Habgier bis hin zu einengenden Geschlechternormen. Doch dort, wo Jelinek sich angesichts der offenkundig falsch eingerichteten Welt gelegentlich in Zynismus flüchtet, ist Josts Geschichte über weite Strecken von einer geradezu gelassenen Heiterkeit geprägt, die das Grauen der Wirklichkeit nicht nivelliert, ihr aber immer wieder Streiche spielt. Und sie damit zuweilen überholt.

Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht. Suhrkamp, 231 S., geb., 24 €.

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