Migranten in Tunesien: Abschreckung als Strategie

Trotz EU-Kooperation ist die Lage für Migranten in Tunesien katastrophal

  • Mirco Keilberth, Sfax
  • Lesedauer: 6 Min.
Geflüchtetencamp in Tunis
Geflüchtetencamp in Tunis

Als Blaupause für das vergangene Woche in Kairo unterschriebene Migrationsabkommen gilt die im letzten Sommer begonnene Kooperation mit Tunesien. Ohne das Parlament in Brüssel zu informieren, war EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen im Juli 2023 nach Tunis gereist. Den Alleingang unterstützten die Regierungschefs der Niederlande und Italiens – Mark Rutte und Georgia Meloni verdankten ihre Wahlerfolge dem Versprechen, die auf Rekordniveau angestiegenen Zahlen der im Schengenraum ankommenden Migranten drastisch zu reduzieren.

Tunesiens Präsident, der ehemalige Juraprofessor und Politikquereinsteiger Kais Saied, galt diesbezüglich als idealer Partner. Der Küstenstreifen zwischen den tunesischen Hafenstädten Sfax und Mahdia hatte Libyen als Sprungbrett nach Europa für Bürgerkriegsflüchtlings aus dem Sudan oder Arbeitsuchende aus Westafrika abgelöst. Die visafreie Einreise lockte Anfang 2023 immer mehr Opfer von Krieg, Korruption und Arbeitslosigkeit in das Urlaubsland vieler Europäer. »Massenmigration ist der Versuch feindlicher Mächte, Nordafrika zu de-islamisieren, und stellt einen Angriff auf die arabische Kultur dar.« Mit seinen Worten vor den Generälen und Ministern des sogenannten Nationalen Sicherheitsrates stellte sich Präsident Saied an die Spitze einer Kampagne gegen Migranten.

Die gewaltsame Vertreibung der meist im informellen Sektor arbeitenden Westafrikaner aus ihren Wohnungen in Tunis und Sfax ließen die Politiker aus Brüssel unerwähnt. Kurz bevor die sich »Team Europa« nennende Delegation in Tunis landete, hatten zudem libysche Grenzwächter mehr als 60 verdurstete Migranten in der Wüste gefunden. Das Foto von Fati Dosso, die mit ihrer sechsjährigen Tochter Marie eng umschlungen im Sahara-Sand lag, ging damals um die Welt. Die aus Côte d’Ivoire (Elfenbeinküste) stammende Frau war von den Behörden in Sfax von ihrem Mann getrennt und in einem Bus an die libysche Grenze gefahren worden. Bei ihrem Marsch durch die Wüste ohne Wasser und Nahrung verdursteten Fati und Marie.

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Die Verhandlungsdelegationen aus Tunis und Brüssel beeindruckten solche Bilder nicht, im Gegenteil. Abschreckung ist Teil des Abkommens. Für die Zahlung von bis zu 1,7 Milliarden Euro sollen die tunesischen Sicherheitskräfte gegen die Schmugglerszene rund um die Hafenstadt Sfax vorgehen und die Abfahrt von Booten verhindern. Und die Gelder aus Brüssel retten den für seinen autokratischen Regierungsstil kritisierten Präsidenten vor dem drohenden Staatsbankrott. 105 Millionen Euro für die Grenz- und Küstensicherung wurden nach Information aus diplomatischen Kreisen bereits nach Tunis überwiesen.

Die restlichen EU-Gelder sind offenbar an die vom Internationalen Währungsfonds geforderten Wirtschaftsreformen gebunden. Doch der vor allem im Milieu der Staatsangestellten und Beamten sowie in Armenvierteln beliebte Saied kann es sich weder leisten, den aufgeblähten öffentlichen Dienst zu verschlanken, noch die zahlreichen Subventionen auf Grundnahrungsmittel zu reduzieren.

Als die EU-Gelder nicht wie erhofft bis Jahresende flossen, änderte Saied den zuvor vor allem gegenüber Italien freundschaftlichen Ton. Man könne nicht den Grenzwächter Europas spielen, so der tunesische Präsident. Das brutale israelische Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung in Gaza drehte die bisher prowestliche öffentliche Meinung Nordafrikas um 180 Grad. »Niemandem erschließt sich, warum Europa die russische Zerstörung der ukrainischen Stadt Mariupol oder die Brutalität gegenüber Migranten einen Bruch des Völkerrechts nennt«, sagt der Menschenrechtsaktivist Zied Meluli aus Sfax, »aber nicht den Tod von 30 000 Zivilisten in Gaza.«

In Tunesien wie auch im EU-Parlament fragen sich viele, ob das Abkommen zwischen Tunis und Brüssel rechtlich Bestand hat und noch umgesetzt werden soll. »Anders als in dem Vertrag mit der Türkei wurde der Status der Menschen im Land unerwähnt gelassen«, kritisiert eine Aktivistin, die sich in Sfax um Migranten und Flüchtlinge kümmert. Sie möchte lieber anonym bleiben – so wie die meisten vom »nd« in Sfax zur Lage der Migranten Befragten. Denn schon nach kritischen Kommentaren in sozialen Medien hat die Staatsanwaltschaft in den letzten Wochen ermittelt. »Das Abkommen bleibt in allen Bereichen vage«, sagt Romdhane Ben Amor, Sprecherin der NGO Forum Tunisien pour les Droits Economiques et Sociaux (FTDES). »Den Preis dafür zahlen die Migranten aus Westafrika und die Flüchtlinge aus dem Sudan, denn sie werden zu einem Tauschobjekt reduziert – als Gegenleistung für Zahlungen.«

Nachdem Jugendgangs und die Behörden die Menschen im letzten Herbst vertrieben hatten, leben nun mehr als 20 000 Obdachlose auf den Olivenfeldern der Küstendörfer wie Al-Amra. Die hygienischen Umstände in dem an ein offenes Flüchtlingslager erinnernden Gebiet sind katastrophal. Zwischen der Bevölkerung, der Polizei und den nach Nationalitäten getrennt lebenden Migranten kommt es immer wieder zu Gewalt. Im Herbst wurde ein Beamter der Nationalgarde schwer verletzt, als Hunderte Sudanesen gegen die aus ihrer Sicht willkürlichen Verhaftungen und die Deportationen in die libysche und algerische Wüste demonstriert hatten.

Selbst in Tunesien ist nur wenig über die außer Kontrolle geratene Lage und die fast wöchentlich vermeldeten Bootsunglücke bekannt. Internationalen und lokalen Journalisten wurde es immer wieder untersagt, nach Al-Amra zu fahren oder mit Migranten zu sprechen. Mehrere Anfragen von europäischen Diplomaten und Parlamentsabgeordneten, sich vor Ort umzuschauen, wurden abgelehnt.

Die Sicherheitskräfte haben um die auf den kilometerlangen Olivenfeldern verteilt lebenden Menschen einen Ring von Kontrollpunkten errichtet. Mit dem Ende der Olivenernte und den steigenden Temperaturen scheint eine Eskalation der Lage unabwendbar. Als Tagelöhner auf den schier endlosen Feldern konnten die Gestrandeten zumindest Lebensmittel und einen Platz in den völlig überfüllten Unterkünften bezahlen, nun hoffen sie nur noch auf eines: die Fahrt nach Europa. Hilfsorganisationen sind in dem Krisengebiet nicht im Einsatz, nur schwangere Frauen und medizinische Notfälle werden von mobilen Teams der Organisation für Migration betreut, berichten die Migranten.

Menschenrechtsorganisationen wie auch die Bevölkerung in den Fischerdörfern der Region fragen sich, welche Strategie Präsident Kais Saied und die EU verfolgen. »Vielleicht hoffen sie, dass sich das Problem außerhalb der Großstadt Sfax und ohne Medienpräsenz in Luft auflöst«, sagt der Aktivist Wahid Dahech. »Aber es kommen jeden Tag mehr Flüchtlinge aus dem Sudan. Wir benötigen dringend ernsthafte Lösungsansätze, um eine weitere Explosion der Lage zu verhindern.«

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