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Pianist Maurizio Pollini: Visionär der Schönheit
Der große italienische Pianist Maurizio Pollini ist gestorben
Es war in den 70er Jahren. Der Teenager lernte das eine oder andere Werk von Frédéric Chopin und gab sich dabei romantischen Klängen und Gefühlen hin – »mir ist so romantisch zumute« … –, als Gegenpol zu einer Welt, mit der er nicht so recht klarkam und die er abzulehnen lernte.
Und dann kam die Freundin, Tochter eines Münchner Musikprofessors, mit dieser Schallplatte daher: Maurizio Pollini spielte die zwei Zyklen der Chopin-Etüden op. 10 und op. 25. Und eine neue Welt tat sich auf: eine brillante Virtuosität. Vor allem aber: strukturelle Klarheit, eine gewisse Kühle, kein Rubato-Bad, dafür durchsichtige Klangbilder und Intellektualität. Es war ein im besten Sinn »moderner« Chopin, der hier zu hören war. Einzigartig.
Bis heute ist diese Aufnahme aus dem Jahr 1972 wegweisend. Atemberaubend gleich das stringente C-Dur-Meer der ersten Etüde oder die Gelassenheit der perlenden zweiten, chromatischen. Und bei den eher »sentimentalen« Etüden, zum Beispiel der melodieseligen dritten oder der sechsten, verkneift sich Pollini jede Übertreibung und erzeugt gerade durch dieses Sich-nicht-gehen-Lassen intensive, wahre Gefühle. Während er bei der A-Dur-Etüde eine geradezu beglückende Vision von Schönheit herbeizaubert.
Vielleicht ist es gerade auch die Auseinandersetzung mit den Werken der klassischen Moderne und zeitgenössischer, aktueller Musik, die Pollini bei Chopin, aber auch bei Schubert oder Beethoven zu anderen Interpretationen trieben, eben: Intellektualität, gepaart mit emotionaler Sensibilität. Mit Hacks zu sprechen: klassische Schönheit.
Konzertveranstalter, die Pollini mit Chopin oder Beethoven buchen wollten, mussten seine gemischten Programme akzeptieren, also auch Werke von Schönberg, Stockhausen oder Webern. Seine Aufnahmen beispielsweise der Variationen op. 27 von Webern, der Zweiten Sonate von Boulez, der Klaviersonate von Alban Berg oder die Ersteinspielung von Nonos »Como una ola de fuerza y luz«/»… sofferte onde serene …« sind Meilensteine. Und wie er durch Bartóks Klavierkonzerte oder durch Strawinskys »Petruschka«-Suite fegt, bleibt einzigartig.
Maurizio Pollini gewann 1960, im Alter von gerade einmal 18 Jahren, den Ersten Preis beim Internationalen Chopin-Wettbewerb in Warschau, dem wichtigsten Pianisten-Wettbewerb überhaupt. Der legendäre Artur Rubinstein, damals Chef der Jury, war begeistert: »Dieser Junge spielt besser Klavier als jeder von uns.«
Natürlich war das ein perfekter Start in eine Weltkarriere. Doch Pollini zog sich schon in den 60er Jahren immer wieder zurück, meditierte, studierte (unter anderem bei Arturo Benedetti Michelangeli), und er beschäftigte sich mit Politik. Skandal machte 1972 ein Auftritt in Mailand, bei dem er vor dem Konzert eine Protestnote gegen die Bombardierung Nordvietnams durch das US-Militär verlas. Gemeinsam mit dem Komponisten Luigi Nono und dem Dirigenten Claudio Abbado setzte sich Pollini gegen Diktaturen in Südamerika oder für Arbeiterrechte ein; und zusammen mit Abbado kämpfte er später gegen den kulturellen Raubbau durch die Berlusconi-Regierung.
Doch Pollini (wie Nono und Abbado) beließ es nicht bei Lippenbekenntnissen. In den 70er Jahren trat Pollini solo oder mit Künstlerfreunden häufig in Fabriken, linken Kulturzentren, Sporthallen, in Dörfern oder bei Konzertprojekten für Unterprivilegierte auf. Er sympathisierte mit der linken Revolte in Italien, mit dem Eurokommunismus von Enrico Berlinguer und setzte sich für die kulturelle Teilhabe aller Gesellschaftsschichten ein.
Aber anders als so viele, die ihr politisches Engagement als eine Art Jugendsünde vergessen machen wollen, blieb Maurizio Pollini bis zuletzt ein politischer Künstler, wie sich in einem Interview des Bayerischen Rundfunks zu seinem 75. Geburtstag zeigte: »Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass wieder einmal eine Zeit kommt, in der ich mich gedrängt fühle, in einem Konzert dem Publikum bestimmte Dinge zu sagen. Aber das darf immer nur eine Ausnahme sein, eine letzte Möglichkeit, um gegen Entwicklungen anzukämpfen, die unerträglich sind.«
In den letzten Jahren setzte er sich erneut intensiv mit den Klaviersonaten von Beethoven auseinander und spielte die Hammerklaviersonate op. 106 neu ein, ein Musterbeispiel für analytische Klarheit und Durchdringung der komplizierten Architektur dieses Werkes. Wobei Sensibilität und Emotionalität keineswegs zu kurz kommen. Zur Frage des Verstehens von Musik bekannte Pollini in besagtem Interview: »Ich glaube, alles, was wir wissen, ist das: Es gibt da einen Reichtum, eine Fülle von Gefühlen.«
Maurizio Pollini, eine Jahrhundertgestalt, ist am Samstag im Alter von 82 Jahren gestorben. Und alle, denen Klaviermusik etwas bedeutet, protestieren gegen seinen Tod.
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