In Prag trifft Brüssel auf Skepsis und Desinteresse

Die Tschechen interessieren sich kaum für die EU. Die Europawahl ist deshalb mehr ein Zeugnis für die amtierende Regierung um Petr Fiala

  • Jindra Kolar, Prag
  • Lesedauer: 4 Min.
Bei den letzten Bauernprotesten machten viele tschechische Landwirte ihren Unmut über die Brüsseler Bürokratie Luft. Viele Menschen im Land teilen die europakritische Einstellung.
Bei den letzten Bauernprotesten machten viele tschechische Landwirte ihren Unmut über die Brüsseler Bürokratie Luft. Viele Menschen im Land teilen die europakritische Einstellung.

Noch wissen die Tschechen nicht, wer an der Europawahl teilnimmt. Erst Mitte April gibt das Innenministerium die genauen Listen der Parteien und Kandidaten bekannt. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die Menschen davon kaum Notiz nehmen werden. Gut 20 Jahre ist die Republik in der EU, eine Zeitspanne, die offensichtlich nicht ausgereicht hat, die Skepsis gegenüber Brüssel und den dort erlassenen Verordnungen abzubauen. Das zeigt sich deutlich an der Wahlbeteiligung. Während deutlich mehr als zwei Drittel der Berechtigten ihre Stimme zu nationalen oder kommunalen Wahlen abgeben, findet sich bei Europawahlen nur etwa jeder vierte im Wahlbüro ein. Mit 28,72 Prozent Wahlbeteiligung wurde Tschechien 2019 nur noch von Slowenien und der Slowakei unterboten.

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Ein Podcast, der dich anlässlich der Europawahl 2024 ins »Herz« der EU mitnimmt. Begleite uns nach Brüssel und erfahre mehr über Institutionen wie das Europäische Parlament, was dort entschieden wird und warum dich das etwas angeht. Der Podcast ist eine Kooperation von »nd«, Europa.Blog und die-zukunft.eu. Alle Folgen auf dasnd.de/europa

Tschechiens Haltung spiegelt sich neben der Wahlbeteiligung auch in der Zustimmung zur Union wider: Stimmten 2003 noch 77 Prozent für den Beitritt zur EU, so empfindet heute gerade noch knapp mehr als die Hälfte der Bevölkerung die Sympathie für Brüssel. Auflagen und Verordnungen werden häufig als gravierender angesehen als Zuwendungen, die das Land erhält. Und die angespannte weltpolitische Lage – vor allem der Krieg in der Ukraine – wird von vielen Bürgern als beängstigend wahrgenommen. Gegenüber der von Brüssel permanent ausgesprochenen Unterstützung Kiews ist man hierzulande zunehmend skeptisch. Dies umso mehr, als sich das Geschehen an der Front eher gegen die Ukraine zu entwickeln scheint. Erste Überlegungen sprechen sich für eine Verhandlungslösung anstelle weiterer Waffenlieferungen aus.

Linke wollen gute Beziehungen zu allen Staaten

So steht es auch in einem der Hauptpunkte des linken Wahlbündnisses Stačilo! (Es reicht!): weg von der Abhängigkeit vom US-amerikanischen Spiel in Europa und von dessen Gefolgsleuten in Brüssel, die immer weiter in den Krieg treiben. Die Bewegung, die von den Kommunisten Böhmens und Mährens (KSČM) angeführt wird, fordert eine friedliche Außenpolitik mit guten Beziehungen zu allen Staaten, auch zu China und Russland. Derzeit ist mit Kateřina Konečná, der erst vor wenigen Jahren neu gewählten ersten Frau an der Spitze der KSČM, nur eine linke Abgeordnete im Straßburger Parlament. Im Bündnis mit den unabhängigen Demokraten und den Volkssozialisten plädiert die linke Liste für eine souveräne Stärkung der nationalen Wirtschaft, eine den Umständen der Republik angepasste Energiestrategie – ohne Öko-Vorgaben aus Brüssel und Berlin – sowie für eine Stärkung der Position Tschechiens innerhalb der EU.

Mit ihrem Programm trifft die linke Bewegung durchaus auch auf euroskeptische Positionen der extremen Rechten und bestimmter konservativer bürgerlicher Kreise – ihr Hauptaugenmerk will die Liste um Konečná jedoch auf den sozialen Wohlstand der tschechischen arbeitenden Bevölkerung legen. Möglich, dass sie damit einen Nerv im Volk trifft und Stimmenzuwächse verzeichnen kann. Bei den letzten Parlamentswahlen fielen jedoch beide große linke Parteien – Kommunisten wie Sozialdemokraten – mit starken Verlusten durch.

Linke nominieren fast ausschließlich Frauen

Die einst regierende ČSSD hat daraufhin auch ihren Kurs und Namen geändert: Als Socdem geht sie nun gemeinsam mit der Bewegung Budoucnost (Zukunft) in die Wahlen. Spitzenkandidat der Liste ist Ex-Außen- und Kulturminister Lubomir Zaorálek. Bemerkenswert an seiner Nominierung: Er ist der einzige Mann unter den Kandidierenden. Feminismus ist nicht nur eines der Markenzeichen von Budoucnost; die Liste hofft, mit dem Verstand von Frauen auch für Europa punkten zu können.

Europawahl 2024

Im Juni wird in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union über ein neues EU-Parlament abgestimmt. Dabei zeichnet sich ab, dass rechte Parteien an Einfluss gewinnen könnten. Was ist eine linke Antwort darauf? Und wie steht es um die Klimapolitik der EU? Welche Entwicklungen gibt es in Hinblick auf Sozialpolitik und was ist im Bereich der europäischen Asyl- und Migrationpolitik zu erwarten? Die anstehende Europawahl wird richtungsweisend. Auf unserer Themenseite fassen wir die Entwicklungen zusammen: dasnd.de/europawahl

Sollte die Wahlbeteiligung Anfang Juni unerwartet doch höher liegen, als die Erfahrung zeigt, wird dies sicher auch eine Abrechnung mit der bisherigen Politik von Ministerpräsident Petr Fiala sein. Seine Fünf-Parteien-Koalition Spolu ist – auch wenn es Fiala weitgehend schafft, Konflikte zu deckeln – in vielen Fragen uneins und braucht viel Zeit für wichtige Entscheidungen. In der Bevölkerung kommt dies nicht gut an. Niemand würde sich wundern, wenn die 2021 abgewählte einstige Protestpartei Ano des Agrar- und Medienmilliardärs Andrej Babiš wieder deutlichen Zuspruch erfährt.

Konservative geben sich EU-freundlich

Im bürgerlichen Lager wird es auf ein Duell zwischen Ano und Spolu hinauslaufen. Wie auch bei den kleineren Parteien gibt es in diesen Lagern euroskeptische Positionen. Spitzenkandidat von Spolu wird Ex-Außenminister Alexandr Vondra sein. Als eher Brüssel zugeneigter Diplomat wird er sich wie auch Parteikollege Fiala für die EU engagieren. Trotz aller Verbalattacken von Babiš wird die Ano eine sehr ähnliche Position beziehen.

Auch wenn das Rennen um die 21 tschechischen Sitze in Straßburg noch nicht begonnen hat, ist jetzt schon sicher, dass die Mehrheit davon aus dem bürgerlichen Lager besetzt wird.

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