Tödliche Polizeigewalt in Berlin: Fall Hussam Fadl vor Gericht

Acht Jahre, nachdem ein Polizist Hussam Fadl erschoss, prüft das Berliner Landgericht die Amtshaftung

Seit 2016 kämpft die Witwe Hussam Fadls mit einer Kampagne um Gerechtigkeit.
Seit 2016 kämpft die Witwe Hussam Fadls mit einer Kampagne um Gerechtigkeit.

»Seit acht Jahren leiden wir und warten auf Gerechtigkeit«, sagt Zaman Gatea. Sie ist die Witwe von Hussam Fadl, der am 27. September 2016 von einem Berliner Polizisten vor einer Geflüchtetenunterkunft in Moabit erschossen wurde. Seitdem bemüht sich Gatea, Mutter von drei Kindern, um einen Strafprozess gegen die drei Berliner Beamten, die auf Fadl feuerten.

Seit acht Jahren lautet die Antwort der Justiz: Verschleppung und Einstellung der Ermittlungen. Doch am Mittwoch beginnt ein Zivilprozess, der Entschädigungsansprüche von Gatea und ihrer Tochter prüfen soll – und neue Erkenntnisse für ein Strafverfahren liefern könnte.

Das ist zumindest die Hoffnung von Beate Böhler, Anwältin von Gatea. »Das Verfahren bietet uns die Chance, die Polizisten konfrontativ zu befragen, und da freue ich mich drauf«, sagt sie am Montag im Rahmen einer Pressekonferenz der Opferberatungsstelle Reachout, die Gatea seit der Tötung ihres Mannes unterstützt. Der Zivilprozess stellt nicht die Schuldfrage, sondern die Frage der Amtshaftung: Haben Amtsträger, also in diesem Fall drei Polizisten, rechtswidrig gehandelt, wofür dann das Land Berlin haften müsste? Falls ja, könnten Gatea und ihre Tochter jeweils mindestens 5000 Euro Entschädigung und Unterhaltsausfall erhalten. Für mindestens genauso wichtig hält Böhler aber die Befragung vor Gericht. Denn dem Narrativ der drei Schützen, das von der Berliner Staatsawaltschaft bisher übernommen wird, kann sie nicht glauben.

Was feststeht: Am 27. September 2016 wurde die Tochter von Hussam Fadl und Zaman Gatea Opfer eines sexuellen Übergriffs durch einen Bewohner der Geflüchtetenunterkunft. Andere Bewohner*innen konnten den Täter fassen und übergaben ihn der Security, die wiederum die Polizei rief. Als der Täter schon im Polizeiwagen saß, löste sich Fadl aus der umstehenden Menge und lief auf das Auto zu. Mehrere Beamt*innen hielten ihn fest, ließen ihn jedoch los, als jemand »Achtung, Messer« rief. Dann fielen vier Schüsse. Drei Polizisten feuerten von hinten auf den damals 29-jährigen Hussam Fadl, eine Kugel traf ihn im Rücken und verletzte ihn tödlich.

Bis hierhin stimmen die Zeugenberichte von Bewohner*innen und Polizist*innen überein. Doch bei einem entscheidenden Detail gehen sie auseinander: Niemand will in Fadls Hand ein Messer gesehen haben – bis auf die drei Schützen. An dem Messer, das später gefunden wurde, fanden sich keine Fingerabdrücke von Fadl.

Dass Hussam Fadl bewaffnet war, erscheint mindestens fragwürdig. Trotzdem beruft sich die Berliner Staatsanwaltschaft auf das Messer, als sie ihre Ermittlungen wegen vesuchter Tötung beziehungsweise vollendeten Totschlags 2017 mit Verweis auf Notwehr und Nothilfe einstellt.

Zaman Gatea stellt daraufhin mit ihrem Anwalt Ulrich von Klinggräff einen Klageerzwingungsantrag beim Kammergericht. »Das ist eigentlich nicht besonders erfolgsträchtig, die meisten scheitern schon an der Zulässigkeitsprüfung«, sagt Klinggräff am Montag. Doch ihr Antrag hat Erfolg. Das Kammergericht beschließt zwar keine Klageerzwingung, aber verpflichtet die Staatsanwaltschaft zu weiteren Ermittlungen. Die Umstände, die zum Schusswaffengebrauch geführt hatten, seien bisher »evident unzureichend aufgeklärt« worden.

Diese Ermittlungen ziehen sich hin – und enden im April 2021 dennoch mit einer Einstellung. »Wie das so häufig ist bei Strafverfahren gegen die Polizei, wurden die Ermittlungen verschleppt und sehr oberflächlich geführt«, sagt Klinggräff. Der damals wegen des Übergriffs festgenommene Mann etwa wurde nie gefragt, ob Fadl mit einem Messer auf ihn zulief, und mittlerweile nach Pakistan abgeschoben. Im Fall einer Polizistin, die zuerst der Version der drei Schützen widersprochen hatte und sich dann wegen psychischer Probleme verhandlungsunfähig meldete, verzichtete die Staatsanwaltschaft auf ein Gutachten und akzeptierte die Krankschreibung. Böhler nennt das die typische »Beweisvernichtungstendenz«.

Einen erneuten Klageerzwingungsantrag lehnt das Kammergericht im November 2022 als unzulässig ab. Gatea wendet sich an das Landesverfassungsgericht – und bekommt im August 2023 überraschend Recht. Das Kammergericht muss erneut über den Klageerzwingungsantrag entscheiden und seine Begründetheit prüfen.

Parto Tavangar von Reachout betont, dass der Tod von Hussam Fadl ohne das Engagement der antirassistischen Organisationen, der Anwält*innen und allen voran von Zaman Gatea schon längst aus der Öffentlichkeit verschwunden wäre. »Das zeigt, dass die Institutionen nicht bereit sind, solche Fälle aufzuklären.« Stattdessen versuchten sie, dem Toten die Verantwortung zuzuschieben. »Diese Täter-Opfer-Umkehr ist typisch bei rassistischer Polizeigewalt.«

Gatea selbst erwartet von Deutschland endlich Gerechtigkeit. »Meine Tochter ist psychisch belastet. Sie wirft sich vor, dass sie die Schuld trägt für den Tod ihres Vaters«, sagt sie.

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