Schuldenreport 2024: Die offenen Adern des Südens

Fast die Hälfte der Menschheit lebt in Ländern, die mehr für ihren Schuldendienst ausgeben als für Bildung oder Gesundheit

  • Martin Ling
  • Lesedauer: 4 Min.
Schleppende Umschuldungsverhandlungen in Suriname: Das Leben ist für viele Bewohner*innen auf das Überlebensnotwendige beschränkt.
Schleppende Umschuldungsverhandlungen in Suriname: Das Leben ist für viele Bewohner*innen auf das Überlebensnotwendige beschränkt.

Das Problem ist erkannt, gebannt ist es nicht: Kommende Woche findet vom 17. bis 19. April in Washington die turnusmäßige Frühjahrstagung von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank statt. Dort stehe die Überprüfung der Schuldentragfähigkeitsanalysen auf der Agenda, sagte Kristina Rehbein am Dienstag bei der Vorstellung des Schuldenreports 2024, den das deutsche Entschuldungsbündnis Erlassjahr.de alljährlich zusammen mit dem katholischen Hilfswerk Misereor herausgibt. »In der Vergangenheit sind die Schuldentragfähigkeitsanalysen viel zu optimistisch ausgefallen«, beschreibt die politische Koordinatorin von Erlassjahr.de das Problem. Zu optimistisch heißt, den verschuldeten Ländern wurde mehr Schuldendienst aus Zins- und Tilgungszahlungen abverlangt, als sie tragen konnten – das ging zu Lasten von Bildung, Gesundheit und der Armutsbekämpfung. Von der Frühjahrstagung erhofft sich Rehbein deswegen eine ehrliche Debatte und eine Überarbeitung der Schuldentragfähigkeitsanalysen.

Fortschritte erhofft sich Rehbein auch beim Runden Tisch zur Schuldenerleichterung, der beim IWF angesiedelt ist. Vor allem die Frage, wie private Gläubiger bei Schuldenerlassen einbezogen werden können, steht dort erneut zur Diskussion. Beim Schuldenmoratorium für die 73 ärmsten Länder während der Corona-Pandemie, das Ende 2021 auslief, hatten sich die privaten Gläubiger verweigert und als Trittbrettfahrer profitiert, denn teilweise flossen die durch das Moratorium frei gewordenen Mittel nicht in die Armutsbekämpfung sondern in die Taschen der privaten Gläubiger.

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Schuldenkrise ist eine Menschenrechtskrise

»Jeder erlassene Dollar ist bereits in den Ländern und muss nicht zusätzlich transferiert werden«, spricht sich Klaus Schilder für Schuldenerlasse aus. Für den Experten für Entwicklungsfinanzierung bei Misereor ist die Klima- und Schuldenkrise eine Menschenrechtskrise und er wünscht sich von der Bundesregierung klare Signale, dass sie das erkennt. Er findet es skandalös, dass die Bundesregierung am 3. April der Resolution im UN-Menschenrechtsrat nicht zugestimmt hat. Diese stellte fest, »dass die Schuldenlast die zahlreichen Probleme der Entwicklungsländer verschärft, zu extremer Armut beiträgt und ein Hindernis für eine nachhaltige menschliche Entwicklung ist und somit ein ernsthaftes Hindernis für die Verwirklichung aller Menschenrechte darstellt.«

Schilder hat für seine Einschätzung beeindruckende Zahlen. »Mehr als 3,3 Milliarden Menschen – fast die Hälfte der Menschheit – leben dem UN-Bericht ›A World of Debt‹ (Eine Welt der Schulden) zufolge in Ländern, die mehr für die Begleichung ihres Schuldendienstes ausgeben als für Bildung oder Gesundheit.«

Eine Milliarde US-Dollar Zinsen pro Tag

»In 45 Staaten fließen mehr als 15 Prozent der Staatseinnahmen in den Schuldendienst«, erklärt Rehbein. Pro Tag seien dies mehr als eine Milliarde US-Dollar – so viel wie noch nie. »Unsere Untersuchungen zeigen, dass viele Länder im Globalen Süden deshalb buchstäblich mit dem Rücken zur Wand stehen.« Verschärft wird das durch die globale Zinswende im Juli 2022. »In Zeiten hoher globaler Zinsen können viele kritisch verschuldete Staaten den hohen Schuldendienst nur noch leisten, wenn sie dafür an anderen Stellen stark einsparen«, mahnt Rehbein.

Laut dem Schuldenreport 2024 sind 130 von 152 untersuchten Ländern weltweit »kritisch verschuldet«, 24 von ihnen sogar »sehr kritisch«. Zu letzteren zählt Suriname, einst Holländisch-Guyana, das im Norden Südamerikas liegt. Sehr kritisch sind Länder verschuldet, wenn sie über 30 Prozent ihrer Exporteinnahmen in den Schuldendienst stecken müssen. In Suriname halten private Gläubiger über 30 Prozent der ausstehenden Forderungen. Dort wurde in den vergangenen drei Jahren die Beteiligung privater Gläubiger an Schuldenrestrukturierungen erprobt – mit ernüchternder Bilanz. »In Suriname schafften es die privaten Gläubiger, die Streichungen deutlich unter das Niveau zu drücken, das ursprünglich vom IWF als notwendig berechnet wurde, und werden für ihre ›Zugeständnisse‹« voraussichtlich durch zukünftige Öleinnahmen mehr als entschädigt», heißt es im Report. Schilder sieht darin einen gefährlichen Trend: «Gläubigerinteressen dominieren, echte Schuldenstreichungen gibt es daher kaum. Es sind die Menschen in den Schuldnerländern, die dafür bezahlen.»

Guterres: Abwärtsspirale ist «systematisches Versagen»

Der UN-Generalsekretär António Guterres bezeichnet diese Abwärtsspirale als «systemisches Versagen» der Weltgemeinschaft. Der Schuldendienst drängt viele hochverschuldete Länder zudem dazu, massiv zu exportieren – denn nur über einen Außenhandelsüberschuss können sie die nötigen Devisen erwirtschaften. Dies zwingt die Staaten vielfach zu drastischen Maßnahmen: Der Konsum der eigenen Bevölkerung wird beschränkt, Nachhaltigkeitskriterien und Arbeitsrechte in der Produktion werden vernachlässigt, die Natur wird einem System neokolonialer Ausbeutung geopfert. Diese Zusammenhänge machen deutlich: Die globale Schuldenkrise ist eine der wesentlichen Ursachen für Hungersnöte und ein maßgeblicher Grund, warum die Ziele für nachhaltige Entwicklunge (SDGs) nicht erreicht werden. Der Schuldenreport 2024 macht dies nachdrücklich klar.

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