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25 Jahre Kongress »Anders arbeiten – oder gar nicht?!«

Rund 300 Menschen kamen 1999 zu einem Kongress in der Berliner Humboldt-Universität zusammen, um über Perspektiven für das Thema Arbeit zu diskutieren

  • Elisabeth Voß
  • Lesedauer: 7 Min.
Arbeit als die Grundlage der (Konsum-)Freiheit – oder gibt es da noch mehr? Das fragten sich unter anderem die Teilnehmenden des Kongresses »Anders arbeiten – oder gar nicht?!« 1999 in Berlin.
Arbeit als die Grundlage der (Konsum-)Freiheit – oder gibt es da noch mehr? Das fragten sich unter anderem die Teilnehmenden des Kongresses »Anders arbeiten – oder gar nicht?!« 1999 in Berlin.

Mit der Bundestagswahl im September 1998 endete die 16-jährige Amtszeit von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), fortan stellten SPD und Bündnis 90/Grüne die Regierung. Aus diesem Anlass lud der politische Förderfonds Netzwerk Selbsthilfe im Herbst 1998 zum Vorbereitungstreffen für einen Kongress zu 100 Tagen rot-grüne Bundesregierung ein. Ich selbst war für die »Contraste – Monatszeitung für Selbstorganisation« dabei.

Netzwerk Selbsthilfe war 1978 aus dem legendären Tunix-Kongress an der TU Berlin entstanden, vor allem, um vom Berufsverbot Betroffene bei der Gründung von Kollektivbetrieben zu unterstützen. Die seit 1984 erscheinende »Contraste« war ein Ergebnis der ebenfalls legendären Projektemesse »Ökologisch leben, friedlich arbeiten in einer selbstbestimmten Gesellschaft« in dem damals noch kollektiv organisierten Produktions- und Sozialprojekt Krebsmühle in Oberursel.

Rückblickend mutet es vielleicht seltsam an, dass ausgerechnet zwei Flaggschiffe der Selbstverwaltungsbewegung ein solches Interesse an der Regierungspolitik hatten. Aber die Alternativlosigkeit der Nachwendejahre hatte uns weichgekocht, und Rot-Grün weckte selbst bei regierungskritischen Linken und Alternativen leise Hoffnungen. Mit den Grünen waren ja auch »unsere« Leute an der Macht, von denen damals einige der Selbstverwaltungsbewegung nahestanden.

Falsche Hoffnungen

Seit den 1980er Jahren waren öffentliche Finanzierungen für kulturelle und soziale Einrichtungen abgebaut und durch Beschäftigungsmaßnahmen ersetzt worden – anfangs mit tariflicher Entlohnung, die jedoch schrittweise gesenkt wurde, ohne dass die Gewerkschaften intervenierten. In der Ankündigung zur Vorbereitung des Kongresses wiesen wir auf die Staatsknete-Debatten der 1980er Jahre hin. Ausgerechnet aus Teilen der alternativen Szene, die öffentliche Fördermittel angenommen hatten, war eine unüberschaubare Landschaft von Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften erwachsen. Denen attestierten wir: »Mittlerweile oft ohne eigene Ideen und Ideale am Tropf der verschiedenen staatlichen Finanziers hängend, haben sie ihre selbstverwalteten Ursprünge fast vollständig aufgegeben.«

Zur Kongressvorbereitung trafen wir uns im »Haus der Demokratie«, dem Sitz der DDR-Bürgerbewegung seit 1990. Von Anfang an gab es die Idee einer breiten Vernetzung, und so kamen Leute aus Erwerbslosengruppen, selbstverwalteten Projekten, verschiedenen Bürger*innen-Initiativen und auch aus Verbänden zusammen. Die Vorbereitungen dauerten länger als geplant und so fand der Kongress mit dem Titel »Anders Arbeiten – oder gar nicht?!« erst im April 1999 statt.

Zu diesem Zeitpunkt war ein anderes Thema brennend aktuell: Einen Monat zuvor hatte der Nato-Krieg gegen Serbien begonnen, ohne Mandat der Vereinten Nationen, mit aktiver Beteiligung der Bundeswehr. Für viele von uns, die wir bisher mit der Überzeugung gelebt hatten, dass von Deutschland nie wieder ein Krieg ausgehen würde, stellte dieser völkerrechtswidrige Krieg in Europa eine Zeitenwende dar.

Zum Kongress hatten wir auch Politiker*innen von SPD und Grünen eingeladen – nun stellte sich die Frage: Können wir mit Kriegstreibern über die Zukunft der Arbeitsgesellschaft reden, als sei nichts passiert? Wir entschieden, das rot-grüne Regierungspersonal nicht auszuladen, uns aber gleich zu Beginn des Kongresses klar zu positionieren. Dino Laufer von Netzwerk Selbsthilfe eröffnete den Kongress mit der Erklärung: »Bevor Forderungen zu ›Anders arbeiten – oder gar nicht?!‹ gestellt werden können, gibt es eine viel zentralere Forderung, nämlich die nach sofortiger Beendigung der Bombardierung Jugoslawiens durch die Nato.« Anschließend diskutierten wir und veröffentlichen am Ende des Kongresses die Ergebnisse und Forderungen im »Berliner Frühlingspapier«.

Die Erwerbslosigkeit lag zu diesem Zeitpunkt bei über zehn Prozent und wir gingen davon aus, dass die Zeit der Vollbeschäftigung endgültig vorbei sei. Vor diesem Hintergrund warfen wir die Frage auf, »wie ein in materieller und sozialer Hinsicht befriedigendes, selbstbestimmtes Leben und Arbeiten für alle erreicht werden kann«. Wir setzten auf den »Dritten Sektor«, einen Wirtschaftsbereich für gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten jenseits von Markt und Staat. Unter diesem umstrittenen Begriff verstanden wir genossenschaftliche Ansätze der Arbeiter*innenbewegung und der Gewerkschaften, selbstverwaltete Betriebe und Projekte aus der Alternativ- und Frauenbewegung sowie Bürgerrechtsbewegungen aus Ost und West.

Existenzsicherung durch Umverteilung

In einer »Taz«-Beilage zum »Anders arbeiten«-Kongress bekundeten wir unsere Überzeugung, dass »dieser sogenannte ›3. Sektor‹ ungeahnte Potentiale kreativer Entfaltung und auch Möglichkeiten der Existenzsicherung für Menschen, die gewollt oder ungewollt aus der Erwerbsarbeit herausfallen«, bieten würde. Um ihn auszubauen, forderten wir einen demokratisch ausgestalteten »Öffentlich geförderten Beschäftigungssektor« (ÖBS), in dem Erwerbslosen eine tariflich entlohnte Tätigkeit angeboten werden sollte. Dabei käme es darauf an, dass diese Arbeit freiwillig sei, also nicht auf Zwangszuweisungen mit Sanktionsdrohung beruhe.

Ebenso wichtig wie das »Anders arbeiten« war das »oder gar nicht« im Titel des Kongresses: Jede*r sollte das unabdingbare Recht auf Existenz im Sinne einer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben haben, ohne Arbeitszwang. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen (BAG-SHI) schlug dafür ein bedingungsloses »Existenzgeld für alle hier lebenden Menschen, unabhängig von Nationalität, Alter, Geschlecht« in Höhe von 1500 DM plus Warmmiete vor. Finanziert werden sollte es nach dem »Take Half«-Modell einer 50-prozentigen Einkommensteuer, deren Summe dann gleichmäßig nach Köpfen zu verteilen sei.

Dieses Umverteilungsmodell unterschied sich deutlich von dem späteren neoliberalen Grundeinkommensmodell des dm-Drogeriemarktgründers Götz Werner, das sehr viel bekannter werden sollte. In diesem aber spielte die Idee der Umverteilung längst keine Rolle mehr.

Eine »Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums« sollte allerdings nach unserer Auffassung nicht nur zwischen »Oben und Unten«, sondern auch zwischen »Nord und Süd« erfolgen. Wir forderten Mittel für Entwicklungspartnerschaften mit dem Süden und eine Reformierung der Entwicklungszusammenarbeit zur »Erleichterung und Entwicklung der Subsistenzökonomie der Länder des Südens«.

Finanziert werden sollte das durch »eine zweckgebundene Welthandelssteuer und Tobin-Steuer auf Devisenspekulationen« (eine Finanztransaktionssteuer, Anm. d. Red.). Den ärmsten Ländern des Südens sollten ihre Schulden erlassen werden. Unsere Anregung, dass der Kongress und die ihn tragenden Initiativen sich verpflichten sollten, »PartnerInnenschaften mit Projekten und NGOs des ›Südens‹ einzugehen und 10 Prozent der eigenen Mittel an diese Projekte zu transferieren«, geriet jedoch schnell in Vergessenheit.

Vom Kongress zur Initiative

Der Kongress hatte uns motiviert, und so machten wir als gleichnamige Initiative weiter. Die Bomben der Bundeswehr auf Serbien hatten unsere Hoffnungen bezüglich Rot-Grün deutlich gedämpft. Auf dem Grünen-Parteitag am 13. Mai 1999 übertönte Außenminister Joschka Fischer die Kriegskritiker*innen in seiner Partei mit der Behauptung, es gehe bei dem Kriegseinsatz darum, ein zweites Auschwitz zu verhindern. Der rot-grünen Kriegstreiberei folgte bald das öffentliche Mobbing von Erwerbslosen durch höchste Regierungskreise, allen voran Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD).

Die Bundesregierung gab mit der Einführung von Hartz IV den Startschuss zum sozialen Kahlschlag und sägte mit der »Riester-Rente« an der solidarischen Alterssicherung. Immer mehr Lebensbereiche wurden durch Deregulierung und Privatisierung der Profitmaximierungslogik unterworfen. Ob die Kohl-Regierung all das genauso unangefochten hätte durchziehen können? Sieben Jahre lang versuchten wir gegen die neoliberale Umstrukturierung der Sozialpolitik anzukämpfen, dann erklärten wir unsere Initiative als ruhend.

25 Jahre nach dem Kongress haben sich gesellschaftliche Widersprüche und soziale Spaltungen noch weiter verschärft. Nach 16 Jahren einer CDU-geführten Bundesregierung ist nun wieder Rot-Grün dran: Das Außenministerium ist zurück in grüner Hand, und Außenministerin Annalena Baerbock verkauft ihre Kriegstreiberei als »feministische Außenpolitik«.

Armut und Obdachlosigkeit haben in der BRD zugenommen, die gesellschaftliche Kälte und Entsolidarisierung verfestigte sich weiter und zeigt sich aktuell besonders im menschenverachtenden Umgang mit flüchtenden Menschen. Aber auch Arbeitskämpfe und Gründungen von Kollektivbetrieben nehmen wieder zu. Offensichtlich sind nach wie vor grundlegende gesellschaftliche Veränderungen notwendig.

Die zuerst publizierte Version dieses Artikels enthielt folgenden Satz: »Auf dem Grünen-Parteitag am 13. Mai 1999 übertönte Außenminister Joschka Fischer die Kriegskritiker*innen in seiner Partei mit der Behauptung, es gehe bei dem Kriegseinsatz darum, ein zweites Auschwitz zu verhindern – und nicht etwa um die Zerschlagung des letzten sozialistischen Staates in Osteuropa.« Dieser wurde so nicht von der Autorin autorisiert und ihren Wünschen entsprechend korrigiert.

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