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Harry und Martha Naujoks: Zwei Leben für die Befreiung
Ein jüngst erschienenes Kompendium widmet sich den kommunistischen Widerstandskämpfern Harry und Martha Naujoks
Wo der Rufmord zum politischen Prinzip erhoben wird, wo die vorher geleerte Schnapsflasche zum politischen Argument wird, wo täglich die niedrigsten Instinkte mobilisiert werden – da findet der Antisemitismus seinen Nährboden. Aber dort sind auch Freiheit, Frieden und Sicherheit aller Menschen bedroht.» Diese Sätze klingen erschreckend aktuell. Doch sie stammen aus dem Jahr 1962. Harry Naujoks sprach sie am 14. Oktober in Essen auf dem Bundestreffen ehemaliger Sachsenhausen-Häftlinge. Es war die Hochphase des Kalten Krieges – eine Zeit, in der insbesondere kommunistische Widerstandskämpfer*innen in der Bundesrepublik erneut Repressalien erfuhren. Die Behörden hatten die KPD verboten und selbst jahrelange KZ-Haft bewahrte die Betroffenen nicht vor weiterer Verfolgung.
Noch erlaubte die politische Lage nicht, dass kommunistische Widerstandskämpfer*innen in Schulen auftraten oder mit jungen Menschen ins Gespräch kamen. Erst in den 1980er Jahren änderte sich das – als viele ehemalige Nationalsozialisten altersbedingt ihre Ämter in Politik und Justiz räumen mussten. Diese Entwicklung erlebte Harry Naujoks nur in ihren Anfängen. Er starb bereits 1983. Doch er trug entscheidend dazu bei, die Geschichte des antifaschistischen Widerstands auch in Westdeutschland sichtbar zu machen.
Chronist des NS-Terrors
Harry Naujoks übernahm den Vorsitz des Sachsenhausenkomitees der Bundesrepublik Deutschland, engagierte sich im Internationalen Sachsenhausenkomitee sowie in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und später in der VVN-BdA. 1987 veröffentlichte der Röderberg-Verlag posthum seine Erinnerungen als Lagerältester unter dem Titel «Mein Leben in Sachsenhausen». Zwei Jahre später erschien das Buch auch im Dietz-Verlag der DDR. Beide Ausgaben prägten die Forschung zur Geschichte des nationalsozialistischen Konzentrationslagersystems. Zahlreiche Historiker*innen griffen auf Naujoks' Schriften zurück und würdigten ihn als besonders glaubwürdigen Chronisten des NS-Terrors. So zitiert auch das kürzlich im Metropol-Verlag erschienene Buch über den Gewerkschafter Hermann Scheffler mehrfach aus Naujoks’ Werk.
Jetzt haben Engagierte seine lange vergriffenen Schriften neu aufgelegt. Die Initiative ging von der Gruppe «Kinder des Widerstands» aus – einem Zusammenschluss von Nachkommen von NS-Widerstandskämpfer*innen, unter ihnen der kürzlich verstorbene Sohn von Willi Naujoks. Sie nahmen Kontakt zum Historiker Henning Fischer auf, der mit «Frauen im Widerstand. Deutsche politische Häftlinge im Frauen-KZ Ravensbrück» bereits 2020 ein wichtiges Werk über antifaschistische Frauen vorgelegt hat.
Auch Naujoks’ Bericht «Mein Leben in Sachsenhausen» hat Fischer in einer sorgfältigen Edition neu bearbeitet. Er macht transparent, wie das Buch entstand. Fischer markierte Textstellen, die das Lektorat ergänzt hatte und die im ursprünglichen Manuskript – das Naujoks gemeinsam mit ehemaligen Mitgefangenen verfasste – nicht vorkamen. Ebenso weist er auf Passagen hin, die das Lektorat gestrichen hat. Unter dem Titel «Der Text eines Überlebenden und seine kollektive Entstehungsgeschichte» analysiert Fischer, wie stark die gemeinsame Arbeit von Häftlingskameraden und Genoss*innen zweier Generationen den Bericht geprägt hat. «Die zahlreichen Schritte von den ersten Notizen zum gedruckten Buch hinterließen dabei wesentlich mehr Fußabdrücke, als es die konventionelle Autorenangabe Harry Naujoks vermuten lässt», schreibt Fischer. Die Texte entstanden in den 1980er Jahren – einer Zeit, in der viele NS-Widerstandskämpfer*innen ihre Erlebnisse öffentlich machten, sei es auf Veranstaltungen oder in Publikationen.
Geschichte heute lesen
Doch wie lesen wir diese Texte vierzig Jahre später? Auch mit dieser Frage setzt sich Fischer auseinander. Er beschreibt, wie er sich als junger Historiker einem ihm bislang unbekannten Text näherte, der viele Jahre vor seiner Geburt entstanden war. «Der Blick auf Harry Naujoks’ Sachsenhausen-Bericht ist für mich als Angehöriger meiner Generation, als Geschichtswissenschaftler und als politisch denkender Mensch auf doppelte Weise ein Blick in ein ›Land vor meiner Zeit‹», schreibt Fischer. Er berührt damit zentrale geschichtsphilosophische Fragen, die im heutigen Umgang mit den Zeugnissen des NS-Widerstands noch drängender werden – jetzt, da nur noch wenige Zeitzeug*innen leben.
Die zentrale Frage bleibt: Wie lesen wir ihre Geschichte heute – und wie gehen wir mit dem über 1400 Seiten umfassenden Kompendium um? Die beiden Bände «Martha Naujoks – Harry Naujoks: Zwei Leben für die Befreiung» stellen zunächst die Lebensgeschichte von Martha und Harry Naujoks in den Mittelpunkt. Martha trat wie ihr Mann schon in jungen Jahren der kommunistischen Bewegung bei. Im Gegensatz zu ihm konnte sie in die Sowjetunion emigrieren, wo sie Aufgaben innerhalb der kommunistischen Strukturen übernahm. Doch auch dort schützte sie ihr Engagement nicht vor Repressionen. Wie viele überzeugte Kommunist*innen geriet sie in die Maschinerie der stalinistischen Verfolgung. Anders als viele andere konnte sie sich im Moskauer Exil erfolgreich gegen ihren Ausschluss aus der kommunistischen Partei wehren.
Wie viele überzeugte Kommunist*innen geriet Martha Naujoks in die Maschinerie der stalinistischen Verfolgung.
Über viele Jahre glaubte Martha, dass die Nationalsozialisten ihren Mann im Konzentrationslager ermordet hätten. Erst kurz nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes erfuhr sie, dass Harry überlebt hatte. Geschwächt durch die Haft in Sachsenhausen und Flossenbürg kehrte er nach Hamburg zurück – und stürzte sich unmittelbar wieder in die politische Arbeit. Doch die KPD-Führung stellte ihn bald kalt. Denn sowohl er als auch Martha gehörten in der Weimarer Republik zur Strömung der sogenannten Versöhnler. Sie stellten sich früh gegen die sozialfaschistische Linie der Partei, die Sozialdemokrat*innen mit Nazis gleichsetzte.
Zwar blieben beide Mitglieder der KPD, doch sie zogen sich aus der aktiven Parteiarbeit zurück. Harry Naujoks nutzte die gewonnene Zeit – neben seinem Beruf und seiner Leidenschaft für die Gartenarbeit –, um sich intensiv mit der Geschichte des antifaschistischen Widerstands auseinanderzusetzen. Martha begleitete ihn dabei, hielt sich aber meist im Hintergrund.
Ungewöhnliches Zeugnis
Die beiden Bände zeigen eindrucksvoll, wie engagiert sich die Naujoks der Geschichtspolitik widmeten. Besonders hervorzuheben sind die sogenannten «Kumpelgespräche»: Über mehrere Jahre trafen sich ehemalige Sachsenhausen-Häftlinge regelmäßig, um ihre Erlebnisse gemeinsam zu protokollieren und zu diskutieren. Auf dieser Grundlage entstanden Naujoks’ Erinnerungen – ein glaubwürdiges und differenziertes Zeugnis, das auch die historische Forschung bis heute prägt. Naujoks berichtete über die verschiedenen Häftlingsgruppen, darunter auch über jene, die die Nazis als «kriminell» oder «asozial» einstuften. Er setzte wichtige Impulse für eine Forschung, die nicht gegeneinander ausspielt, sondern den Alltag und das Verhalten der Häftlinge in den Mittelpunkt stellt – und nicht allein den Winkel, den sie auf der Häftlingskleidung tragen mussten.
Henning Fischer unternimmt in seinem Beitrag zu dem Kompendium auch eine kritische Analyse der Texte. Er zeigt auf, wie aus den Mitschriften der «Kumpelgespräche» die Bücher entstanden und wie sich die Ausgaben in der BRD und der DDR voneinander unterscheiden. Ergänzt wird das Werk durch 47 internationale Beiträge über Faschismus – von Autor*innen wie Antonio Negri, Eric Hobsbawm oder Peter Weiss. Diese Beiträge machen das Werk zu einem globalen Lesebuch über Widerstand und Verfolgung. Die beiden Bände setzen Maßstäbe dafür, wie wir in einer Zeit ohne Zeitzeug*innen mit der Geschichte des antifaschistischen Widerstands umgehen können. Doch die von Henning Fischer aufgeworfene Frage bleibt: Wie werden kommende Generationen diese Geschichte lesen?
Peter Badekow et al. (Hg.): Martha Naujoks – Harry Naujoks. Zwei Leben für die Befreiung. Bd. 1: Aufbrüche und Niederlagen; Bd. 2: Zwischen Revolution und Inferno. Kinder des Widerstands, 1414 S., geb., 59 €.
Das Buch wird am 26. August 2025 um 20 Uhr im Buchladen Schwarze Risse in Berlin-Kreuzberg vorgestellt. www.schwarzerisse.de
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