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»Gebrochene Versprechen«: Ende der Wohlstandsillusion
In seiner Studie analysiert der US-Historiker Felix Bartel die Grundlage für den Siegeszug des Neoliberalismus am Ende des Kalten Kriegs
Es ist eine Ironie der Geschichte», schrieb der marxistische Historiker Eric Hobsbawm 1994 in seiner Beschreibung der Geschichte des 20. Jahrhunderts als «Zeitalter der Extreme», «daß die ›realsozialistischen‹ Wirtschaften Europas, der Sowjetunion und Teile der Dritten Welt die wirklichen Opfer der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise nach dem Goldenen Zeitalter werden sollten». Denn während diese in schwere Krisen geraten seien, hätten «die ›entwickelten Marktwirtschaften‹ die schwierigen Jahre, jedenfalls bis in die frühen 1990er Jahre, mit ein paar Erschütterungen, aber ohne existenzbedrohende Probleme überstehen» können. Hobsbawm formulierte damit einen für einen Marxisten überaus häretischen Gedanken, gingen die meisten Anhänger*innen des Alten aus Trier doch davon aus, dass die zyklisch wiederkehrenden Krisen des Kapitalismus zu einer Stärkung seiner Gegner bis hin zu seinem Sturz führen würden. Dass es anders kam, was Hobsbawm auf nur wenigen Seiten vor allem auf die «Kombination aus Inkompetenz und Korruption» der sowjetischen Nomenklatura zurückführte, dieser Gedanke ist kaum weiter verfolgt worden.
Dieser seltsamen Dialektik der Zeitläufte hat sich der US-amerikanische Historiker Felix Bartel nun angenommen, wenn auch ohne Verweis auf den 2012 verstorbenen Hobsbawm. In seiner Studie «Gebrochene Versprechen» analysiert er, wie die Krisenerscheinungen der frühen 1970er Jahre sowohl den Aufstieg des Neoliberalismus als auch das Ende des Staatssozialismus bedingten.
Integration durch Massenkonsum
Bartels Ausgangspunkt bildet dabei das Jahr 1973: Der Ölpreisschock, der die Kosten des wichtigsten Schmiermittels des industriellen Kapitals zeitweise vervierfachte, und das Ende des Bretton-Woods-Systems der stabilen Wechselkurse hätten die bereits länger schwelenden Krisenmomente der Weltökonomie ins allgemeine Bewusstsein gebracht. Und dies in Ost und West gleichermaßen, denn auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs hatte sich das Wachstum der Produktivität merklich verlangsamt. Was im Kapitalismus die Profitklemme war, stellte sich im Staatssozialismus als verringerter Investitionsfonds dar. Zudem hatten die gigantischen Einnahmen aus dem Ölgeschäft und die lockerere Geldpolitik der Notenbanken nach der Aufkündigung der Dollar-Gold-Bindung das private Finanz- und Anlagevermögen exorbitant anwachsen lassen. Zusammengenommen stellen diese Aspekte für Bartel «das bestimmende Merkmal eines privatisierten Kalten Krieges» dar: Von nun an seien die Nationalstaaten von Krediten abhängig geworden, um «weiterhin ihre Außen- und Innenpolitik finanzieren und die Schocks der Ölkrise hinauszögern» zu können.
Dies bedeutete in der Konsequenz nichts weniger als einen paradigmatischen Wechsel bezüglich der inneren Integrationsleistungen der Kombattanten in Ost und West. Denn bis dahin war der Kalte Krieg auch «ein Wettbewerb zwischen zwei Systemen, deren Regierungen mit sozialen Versprechen antraten, die durch ein beispielloses Wirtschaftswachstum verbürgt waren», wie Bartel darlegt. Und dies war alles andere als ein Geheimnis: Anlässlich des Besuchs der Amerikanischen Nationalausstellung in Moskau durch den damaligen US-Vizepräsidenten Richard Nixon kam es etwa 1959 zu einem in alle Welt übertragenen Schlagabtausch zwischen ihm und Nikita Chruschtschow. Während Nixon angesichts der gezeigten Massenkonsumwaren made in USA, die in der Sowjetunion tatsächlich ungläubiges Erstaunen hervorriefen, den Lebensstandard amerikanischer Arbeiter samt Fernseher, Waschmaschinen und Autos pries, prahlte der sowjetische Generalsekretär, dass der erste sozialistische Staat der Welt binnen sieben Jahren den Lebensstandard der USA erreichen würde. «Wenn wir an euch vorbeiziehen», ließ Chruschtschow die Welt wissen, «dann winken wir freundlich, und wenn ihr wollt, halten wir an und laden euch ein, uns zu folgen».
«Der Kalte Krieg begann als Rennen darum, Versprechen zu geben, aber endete als Rennen darum, Versprechen zu brechen.»
Fritz Bartel Historiker
Daraus wurde bekanntlich nichts. Es ist unklar, ob Chruschtschow überhaupt jemals selbst an die Schließung der gigantischen Produktivitätslücke gegenüber den entwickelten kapitalistischen Staaten geglaubt habe. Spätestens ab Mitte der 1970er Jahre ließ sich aber die Krise, die zunächst die Volksdemokratien in Ungarn und Polen ereilte und dann auf alle im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) zusammengeschlossenen Staaten übergriff, kaum mehr leugnen. Die Wirtschaft kam nur noch mit der «Geschwindigkeit eines ermatteten Ochsen» (Hobsbawm) voran. Weniger als ein Prozent Wirtschaftswachstum verzeichneten die RGW-Staaten im Durchschnitt der 1970er Jahre. Und selbst dies war, wie Bartel nachweist, immer stärker durch Kredite westlicher Finanzinstitute finanziert, die den Regierungen in Warschau, Budapest, Ostberlin, Prag und selbst in Moskau zumindest etwas Handlungsspielraum verschafften.
Verlängerte Schonfrist
Jedoch lief es auch auf der anderen Seite der Demarkationslinie alles andere als rund. 1974 erlebten die westlichen Industriestaaten die erste große Rezession nach dem langen Nachkriegsboom. Die Arbeitslosigkeit, die jener Generation der nach 1929 Geborenen praktisch unbekannt gewesen war, stieg in den OECD-Ländern in diesem Jahr sprunghaft auf 5,5 Prozent an, in den USA gar auf fast neun Prozent. Ein Ass hatte man in Washington aber noch im Ärmel: Im Gegensatz zu den unkonvertierbaren Währungen des Ostblocks hätten die USA, so Bartel, ihre «Schonfrist» verlängern können, da «die USA in den 1970er Jahren ihre laxe Geldpolitik beibehielten» und der Dollar noch als vertrauenswürdig angesehen wurde.
Spätestens aber die «Flucht aus dem Dollar» und die folgende Inflation machten Ende der 1970er Jahre auch hier deutlich, dass es so nicht weitergehen konnte. Es war der nach dem Zentralbank-Chef Paul Volcker benannte Schock von 1979, der vieles veränderte. Zinssätze von über 20 Prozent dünnten das Kreditvolumen dramatisch aus und setzten, gefeiert von den Bossen und den ihnen ergebenen neoklassischen Ökonomen, eine ganze Welle sozialer Angriffe auf die Klassenkompromisse in den kapitalistischen Staaten frei.
Sieg des Kapitals
«Dass Amerika schließlich entschieden hatte, die eigene Krise durch die Aufkündigung sozialer Versprechen zu bewältigen», folgert Bartel, «,bedeutete angesichts der zentralen Rolle des Dollar für die globale Wirtschaft, dass dem Rest der Welt – einschließlich der kommunistischen Staaten im Ostblock – keine andere Wahl blieb, als denselben Kurs einzuschlagen». Denn im Kern entsprangen die Währungskrisen im Westen ja den gleichen Ursachen wie die Schuldenkrisen in den Ostblockstaaten. Hier nun ergab sich ein neues Paradigma: «Der Kalte Krieg begann als Rennen darum, Versprechen zu geben, aber endete als Rennen darum, Versprechen zu brechen», so die zentrale These des an der Texas A&M University Lehrenden und Forschenden, die der Studie auch den Namen gegeben hat.
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In «Gebrochene Versprechen» zeichnet Bartel den anschließenden Siegeszug des Neoliberalismus in den OECD-Staaten sowie die Reformbemühungen im Staatssozialismus und deren endgültiges Scheitern anhand verschiedener Beispiele nach. Dies macht den großen Wert der Studie gegenüber subjektivistischen Sichtweisen aus, die die «soziale Konterrevolution» (Hobsbawm) des Neoliberalismus rein auf die politische und soziale Macht von Unternehmern oder Ökonomen nach Art Milton Friedmans und seiner Chicago Boys zurückführen. Bartel weist dagegen überzeugend nach, dass dieser eine längst bekannte «kapitalistische Vision» anbot, um die «realen Herausforderungen für Regierungen in Ost und West zu bewältigen».
Dass dies im Westen besser gelang, lag zunächst an dem der höheren Produktivität geschuldeten besseren Lebensstandard breiter Bevölkerungsteile in den alten kapitalistischen Zentren. Hinzu kam aber, so Bartel, dass die Zumutungen – dazu gehörte auch die Finanzierung der gigantischen Militärapparate, durch die Mittel für soziale Politiken fehlten – sich in bekannte ideologische Muster einpassen ließen. Hingegen hätte das Bekenntnis zum Kommunismus «in einer solchen Ära der sozialen Einschnitte keinerlei Sinn» mehr ergeben. Und auch die demokratische Verfasstheit der Staaten im Westen erwies sich entgegen den autoritären Ostblockstaaten als anpassungsfähiger, um «Widerstand gegen die Regierung zu neutralisieren».
Wie schwer dieses Dilemma wirkte, darauf machte etwa der SED-Finanzexperte Günter Ehrensperger nur wenige Stunden vor der Maueröffnung aufmerksam. «Wenn wir aus dieser Situation herauskommen wollen», erklärte er im Zentralkomitee, «müssen wir mindestens 15 Jahre weniger verbrauchen als wir produzieren». Dies sei aber den Arbeiter*innen der DDR kaum zu vermitteln, wie die Aufstände in Polen seit 1970 immer wieder bewiesen hätten. Ein Sozialismus, der «Diener zweier Herren: des Volkes und der Märkte» (Bartel) sein musste, verlor so schließlich jeglichen Rest an Legitimation, den er vielleicht bei Teilen der Bevölkerung noch genossen hatte. «Das Ende des Kalten Krieges», so Bartels deprimierendes Fazit, «war der Moment, in dem die Macht des Volkes ihren Höhepunkt erreichte – und zugleich überwunden wurde». Die Logik des Kapitals hatte global gesiegt. Insbesondere zum Verständnis dieses bis heute währenden «Triumph(s) der gebrochenen Versprechen» dürfte sich die Studie Bartels als ungemein nützlich erweisen.
Fritz Bartel: Gebrochene Versprechen. Das Ende des Kalten Krieges und der Aufstieg des Neoliberalismus. Hamburger Edition, 440 S., geb., 40 €.
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