Von Partisanen und Palästinensern

Hundertausend feiern in Mailand den Tag der Befreiung vom Nazifaschismus

  • Cyrus Salimi-Asl, Mailand
  • Lesedauer: 4 Min.
Italien feiert am 25. April seine Befreiung von der Nazi-Besatzung und der faschistischen Herrschaft. Die Demonstration in Mailand stand dieses Jahr ganz im Zeichen der Solidarität für die Palästinenser und der Verurteilung des Gaza-Kriegs. Auf einem der Spruchbänder auf dem Domplatz ist zu lesen: "Stoppen wir das Massaker am palästinensischen Volk. Bleiben wir menschlich"
Italien feiert am 25. April seine Befreiung von der Nazi-Besatzung und der faschistischen Herrschaft. Die Demonstration in Mailand stand dieses Jahr ganz im Zeichen der Solidarität für die Palästinenser und der Verurteilung des Gaza-Kriegs. Auf einem der Spruchbänder auf dem Domplatz ist zu lesen: "Stoppen wir das Massaker am palästinensischen Volk. Bleiben wir menschlich"

Dieses Jahr war der Tag der Befreiung in Italien alles andere als eine Routineveranstaltung. Diesmal kamen geschätzt über Hundertausend linksbewegte, antifaschistische Menschen zur Demonstration nach Mailand, um am 25. April der Befreiung der letzten italienischen Städte vom Nazifaschismus durch den Widerstand, die Resistenza, zu gedenken.

Die linke Tageszeitung »il manifesto« hatte vor rund einem Monat dazu aufgerufen, den 25. Mai in diesem Jahr zu einem besonderen Gedenktag zu machen – um die Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen zu stoppen und der drohenden Gefahren durch rechtsextreme Parteien in Europa entgegenzutreten. Eine Demonstration europäischer Tragweite sollte der 25. April 2024 werden, größer als je zuvor und anknüpfen an den Massenprotest vor genau 30 Jahren gegen die erste Regierung Berlusconi, »um aus dieser Befreiung eine besondere Befreiung zu machen«, schreibt Chefredakteur Andrea Fabozzi in der Zeitungsausgabe vom 25. April.

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Der Erfolg hat »il manifesto« Recht gegeben: Die Anzahl der Teilnehmer war gewaltig, auch zwei Stunden nach Beginn konnte sich der Demonstrationszug immer noch nicht in Bewegung setzen, so groß und anhaltend war der Andrang. Als auf dem Domplatz, Endpunkt der Demo, die ersten Reden gehalten wurden, war der Demonstrationszug erst vor kurzem gestartet. Die Menschen strömten nach und nach auf den Corso Venezia und schlossen sich den anderen an: Propalästinensische Gruppen, Migrantenorganisationen, Gewerkschaften, linke und vor allem linksradikale, kommunistische Parteien wie die wiederbegründete KP Italien (PCI), Unterstützerkommitees für die Freilassung von Ilaria Salis, die in Budapest in Haft sitzt und vom linksgrünen Bündnis als Kandidat für die Europwahl aufgestellt wird.

Die Demonstrant*innen protestieren für Arbeitsplätze, für das Recht von Frauen, selbst über ihren Körper zu entscheiden, für ein funktionierendes unentgeltliches Gesundheitssystem, für Schulbildung, gegen die Festung Europa, die Migranten ausschließt, für die Freilassung von Julian Assange.

Primo Minelli, Präsident der Partisanenvereinigung (Anpi) für Mailand, richtete einen versöhnenden Aufruf an die Anwesenden: »Waffenstillstand überall, Schluss mit dem Leid in der Ukraine und den Massakern in Palästina, lasst die Geiseln vom 7. Oktober nach Hause zurückkehren«. Mailands Bürgermeister Beppe Sala bedankte sich bei »il manifesto« für die Mobilisierung: »Ihr habt etwas Außergewöhnliches zum richtigen Zeitpunkt getan«.

Der Domplatz sei seit Jahren nicht mehr so voll gewesen, so Sala, und wandte sich als Bürgermeister der zweitgrößten Stadt Italiens an die rechte Regierung Melonis, die die Verfassung ändern will, damit der Regierungschef direkt gewählt werden kann: »Mailand sagt, dass die Verfassung nicht angetastet werden darf, diese Stadt ist die moralische Barriere, an der jedes Vorhaben, die Demokratie zu stürzen, zerschellen wird«.

Ähnlich sieht es Anpi-Präsident Gianfranco Pagliarulo: »Wenn alle Macht in die Hände einer einzigen Person gelegt und Italien in viele konkurrierende Regionen aufgeteilt wird, wird die Verfassung von 1948 übergangen«, die bekanntermaßen auf den Trümmern des antifaschistischen Kampfs der Partisanen entstanden ist.

Auffällig ist der hohe Anteil junger und jüngster Demonstrant*innen. Luciana Castellina, Grande Dame der italienischen Linken und Mitbegründerin von »il manifesto«, konstatiert in einem Artikel der Ausgabe vom Freitag die Rückkehr der 20-Jährigen auf die politische Bühne und sieht darin ein positives Zeichen, nämlich »dass sie spüren, dass wir uns an einem epochalen Wandel in der Welt befinden, und dass sie dazu getrieben werden, sich zu mobilisieren«.

Genauso auffällig: die übergroße Präsenz propalästinensischer Gruppen, die ein sofortiges Ende des blutigen Gaza-Kriegs fordern. »Antifaschismus gleich Antizionismus« ist nur einer der Slogans, die zu sehen sind. Das ist auch die kleinste Überraschung und war erwartbar angesichts der vielen Toten im Gazastreifen und der Unmöglichkeit, ein Ende des Kriegs abzusehen. Nicht automatisch vorhersehbar war hingegen die Verbindung oder Gleichsetzung des Widerstands der Palästinenser mit der Resistenza der italienischen Partisanen.

An diesem Punkt treffen junge und alte Widerstandskämpfer in Mailand zusammen, dort, wo 1945 die Anführer des Widerstands in Norditalien, darunter der spätere Staatspräsident Sandro Pertini, am 25. April von ihrem Hauptquartier in Mailand aus zum Generalaufstand in allen noch von den Nazifaschisten besetzten Gebieten aufriefen, um die deutschen Truppen vollständig aus Italien zu vertreiben – noch vor Ankunft der Allierten.

Bologna oder Genau waren wenige Tage zuvor befreit worden, Mailand am 25. und Venedig am 28. April. Genua oder Mailand, die als Modelstädte des antifaschistischen Widerstands gelten, erhielten 1947 bzw. 1948 die Goldmedaille für militärische Tapferkeit. Bis zu 250 000 Kämpfer*innen soll die Partisanenarmee groß gewesen sein und damit nach der jugoslawischen die zweitgrößte Europas. In Mailand waren am Donnerstag immerhin über 100 000 Menschen auf der Straße.

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