»In Venezuela herrscht ungezügelter Kapitalismus«

Vor den Wahlen in Venezuela: Der Stadtteilaktivist und Dozent Andrés Antillano über die wirtschaftliche und politische Lage im Land

  • Interview: Tobias Lambert
  • Lesedauer: 7 Min.
Auch wenn die Oppositionspolitikerin María Corina Machado bei den Wahlen nicht antreten darf, hat sich die Rechte auf einen gemein­samen Kandidaten geeinigt.
Auch wenn die Oppositionspolitikerin María Corina Machado bei den Wahlen nicht antreten darf, hat sich die Rechte auf einen gemein­samen Kandidaten geeinigt.

Weder die Wunschkandidatin der rechten Opposition, María Corina Machado, noch ihre Ersatzkandidatin Corina Yoris dürfen bei der venezolanischen Präsidentschaftswahl am 28. Juli antreten. Mitte April stellte sich die Rechte daher überraschend hinter den ehemaligen Diplomaten Edmundo González Urrutia. Der Nationale Wahlrat und die Regierung haben dies akzeptiert. Was steckt dahinter?

Der Schritt kam unerwartet. González wurde ursprünglich nur als Platzhalter registriert, weil sich die Opposition nicht einigen konnte. Im Hintergrund fanden Verhandlungen sowohl innerhalb der Opposition als auch zwischen der US-amerikanischen und venezolanischen Regierung statt. Hätte die venezolanische Regierung die bereits zugelassene Kandidatur noch untersagt, wäre dies mit hohen politischen Kosten verbunden gewesen. Und möglicherweise betrachtet sie Gónzález als schwachen Kandidaten, den sie besiegen kann.

Was bedeutet das für die Wahl?

Die Regierung Maduro will unbedingt an der Macht bleiben. Und dies nicht nur, weil die Regierungsvertreter im Fall einer Abwahl den Zugang zu ökonomischen Privilegien verlieren würden. Bei einer Wahlniederlage hätten sie nämlich sowohl Verfolgung seitens der heutigen Opposition als auch der US-Ermittlungsbehörden zu befürchten. Sie haben also zu viel zu verlieren. Gleichzeitig stellt sich die Frage, inwieweit die Opposition die Schwäche der Regierung ausnutzen kann. Der Chavismus ist immer noch die am besten organisierte politische Kraft in Venezuela, die Regierungspartei ist als einzige an allen Orten Venezuelas präsent. Aus meiner Sicht gibt es drei grundlegende Szenarien.

Interview

Andrés Antillano ist Kriminologe und Dozent an der Zentraluniversität Venezuelas (UCV) in Caracas. Seit über 30 Jahren ist er als Basisaktivist in stadtpolitischen Bewegungen aktiv.

Wie sehen diese aus?

Das erste, von der Regierung angestrebte Szenario ist, dass Maduro die Wahl deutlich gewinnt. Dies aber scheint nur möglich, wenn die Opposition mit mehreren Kandidaturen antreten würde, von der keine die Stimmen auf sich vereinbaren kann, die María Corina Machado laut Umfragen erreichen könnte. Denn innerhalb des Oppositionslagers sehen viele sie als einzig legitime Kandidatin an. Da die Teilaufhebung der US-Sanktionen zumindest vorübergehend mehr Geld in die öffentlichen Kassen gespült hat, kann die Regierung zudem im Wahlkampf die Ausgaben ausweiten und dadurch ihr Wählerpotenzial besser ausschöpfen. Dieses Szenario erscheint aber unwahrscheinlich. Es gibt eine hohe Wahlbereitschaft und aufgrund der verbreiteten Unzufriedenheit ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der oppositionellen Wähler für González stimmen wird.

Dabei wirkt González als ehemaliger Diplomat, der noch unter Hugo Chávez venezolanischer Botschafter in Argentinien war, wie ein Gegengewicht zur aggressiv auftretenden María Corina Machado.

Es mangelt ihm zweifelsohne an Charisma und die klare Verbindung zwischen den beiden ist politisch ein Stück weit konstruiert. Tatsächlich ist Machado weiterhin auf Wahlkampftour. Aber González hat die maßgeblichen Strömungen innerhalb der Opposition hinter sich, auch Machado steht klar hinter ihm.

Und die anderen beiden Szenarien?

Das zweite Szenario wäre ein illegitimer Sieg der Regierung. Das könnte dann der Fall sein, wenn sie González’ Kandidatur doch noch verhindert oder Wahlbetrug begeht. Dies wäre eine offene Aufkündigung der Demokratie und mit hohen politischen Kosten verbunden. Im dritten Szenario verliert die Regierung die Wahl. Dies aber dürfte nur eintreten, wenn sie sich verschätzt. Das heißt, wenn sie sich irrtümlicherweise sicher ist, gegen González zu gewinnen. Dieses Szenario würde zu enormen Spannungen innerhalb des regierenden Chavismus führen.

Inwiefern?

Einige Funktionäre können es sich nicht erlauben, die Wahl zu verlieren, und andere würden darauf drängen, das Ergebnis anzuerkennen. Letzteres würde aber nur dann eintreten, wenn in Verhandlungen Garantien vereinbart würden, dass Repression und juristische Verfolgung nach einem möglichen Machtwechsel ausbleiben. Das zu erreichen ist extrem schwierig. Denn was den regierenden Chavismus zusammenhält, ist der Machterhalt. Zudem könnte auch die Opposition einen solchen Weg blockieren, wenn sie sich aus Revanchismus Verhandlungen verweigert. Teile der Regierungsgegner stehen dem Dialog mit der Regierung grundsätzlich ablehnend gegenüber. Neben diesen drei Szenarien gibt es noch eine Reihe weiterer, aber deutlich unwahrscheinlicherer Möglichkeiten. Dazu gehören ein Staatsstreich oder dass die Wahlen am Ende abgesagt werden, etwa weil der Territorialkonflikt mit dem Nachbarland Guyana um das Esequibo-Gebiet eskaliert.

Welche Rolle spielt bei diesen Wahlen der Basis-Chavismus, der mit der aktuellen Regierungspolitik häufig Differenzen hat?

Für mich spielt der Chavismus als Bewegung politisch keine echte Rolle mehr, auch wenn es ihn noch gibt. Die meisten Gruppierungen haben es nicht geschafft, ihre Autonomie zu behaupten, der Staat hat alles aufgesogen. Vielen fällt es schwer, sich von der Regierung zu lösen. Das hängt auch damit zusammen, dass es auf der Linken derzeit keine von der Regierung tolerierten Alternativen gibt.

Die Regierung verweist oft auf die wirtschaftliche Erholung, die nach den harten Krisenjahren eingesetzt habe. In Caracas sieht man viele volle Cafés und Restaurants, in denen Menschen trotz enorm hoher Preise konsumieren. Hat sich die Situation tatsächlich verbessert?

Es herrscht eine immense Ungleichheit. Laut Schätzungen von Ökonomen gibt es in Venezuela derzeit zwischen 50 000 und 60 000 Personen, die über Kaufkraft verfügen, das sind nicht einmal 0,2 Prozent der Bevölkerung. Sie können Restaurants besuchen, die preislich mit New York oder Paris mithalten können. Es handelt sich also um eine winzige Nische, die vor allem in Caracas existiert. Der Mindestlohn von wenigen US-Dollar monatlich plus deutlich höhere Bonuszahlungen reicht kaum für einen kurzen Café-Besuch. Die Mehrheit der Bevölkerung muss sich mit mehreren unregulierten Jobs über Wasser halten, sei es als informelle Straßenhändler oder als Fahrer in der Plattform-Ökonomie. In Venezuela herrscht heute ungezügelter Kapitalismus.

Welche Rolle spielen die US-Sanktionen bei dieser Entwicklung?

Ein paradoxer Effekt besteht darin, dass die Sanktionen zu einer informellen, intransparenten Ökonomie beigetragen haben. Im Unterschied zur Absicht der USA, durch Sanktionen einen Keil in die Regierung zu treiben und dadurch einen politischen Wandel zu erzwingen, haben diese den Abbau von Arbeitsrechten und dramatische Lohnverluste befördert. Privatisierungen finden mal offen, mal verdeckt statt. Öffentliche Investitionen gibt es kaum noch, der Staat unterstützt allenfalls Privatunternehmen dabei, Geld in öffentliche Infrastrukturen zu stecken. Das Erdöl wird intransparent mit hohen Rabatten gegen Barzahlung verkauft, was die Korruption weiter befördert.

Ein Großteil der Einkommen im öffentlichen Sektor basiert heute nicht mehr auf Löhnen, sondern Bonuszahlungen, die keine Auswirkung auf Renten oder Urlaubsgeld haben. Warum versucht die Regierung in dieser Situation nicht, das Lohnniveau und die Kaufkraft deutlich zu steigern?

Das Problem ist, dass die skandalös niedrigen Löhne Teil des nicht öffentlich deklarierten neoliberalen Modells der Regierung sind, mit dem diese die Krise zu lösen versucht. Es ist natürlich kein klassischer Neoliberalismus, da Venezuela über keine offene Wirtschaft verfügt und ausländische Direktinvestitionen nur unter enormer Intransparenz und Verschleierung möglich sind. Dies zu ändern wäre derzeit nur über ein Abkommen zwischen den regierungsnahen und oppositionellen Eliten denkbar, das zu einem Ende der Sanktionen führt. Die wenigen Äußerungen zur Lohnfrage seitens der Regierung betonen, substanzielle Erhöhungen seien nicht möglich, da die Wirtschaft nicht produktiv genug sei. Das ist kein linker, nicht einmal ein keynesianischer Ansatz. Nötig wäre mindestens, die Nachfrage anzukurbeln. Die breite Masse hat schlicht kein Geld, um es auszugeben.

Im vergangenen Oktober hat die US-Regierung die Sanktionen im Erdöl- und Gassektor unter der Bedingung gelockert, dass transparente Wahlen vorbereitet werden. Mittlerweile sind die Sanktionen wieder eingeführt. Welche Auswirkungen hatten sie?

Durch die vorübergehende Flexibilisierung der Sanktionen ist in den vergangenen Monaten mehr Geld ins Land geflossen. Davon profitieren vor allem regierungsnahe Unternehmer. Teilweise entstehen Luxusapartments, Hotels und Restaurants, die im Moment kaum jemand braucht. Das Problem ist aber, dass das Kapital überwiegend unter Umgehung der Sanktionen gewachsen ist und nicht legal investiert und reproduziert werden kann. Eine Normalisierung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wäre für diese Kreise durchaus ein Anreiz, im Falle eines oppositionellen Wahlsieges auf eine Anerkennung des Ergebnisses zu drängen.

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